Lange schien so, als habe die grün-rote Landesregierung ihren Zwist über Stuttgart 21 überwunden. Doch der Eindruck trog. Jede neue Windung des Projekts führt zu neuen Konflikten innerhalb der Koalition.

Stuttgart - Der Bahn-Aufsichtsrat war am Dienstag noch nicht zusammengetreten, da krachte es schon gewaltig im Gebälk der grün-roten Koalition. Claus Schmiedel, der Chef der SPD-Landtagsfraktion, warf dem Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann einen „beispiellosen Affront“ vor, weil dieser – wie von der StZ berichtet – in einem Brief an den Bahn-Aufsichtsrat seine Bereitschaft hatte anklingen lassen, über Alternativen zu Stuttgart 21 zu verhandeln. Schmiedel monierte, damit habe der Regierungschef die Koalitionslinie verlassen, keine Gespräche über einen Ausstieg zu führen.

 

Zur selben Zeit, da Schmiedel zur Attacke blies, hatte Bundesratsminister Peter Friedrich (SPD) bereits eine extra kalte Dusche hinter sich, um sein durch einen TV-Auftritt des Verkehrsministers Winfried Hermann (Grüne) erhitztes Gemüt wieder auf Normaltemperatur abzukühlen. Hermann hatte im „ZDF-Morgenmagazin“ zu den Beratungen des Bahn-Aufsichtsrats gesagt: „Ich hoffe sehr, dass heute nicht entschieden wird, sondern dass die Fehler erkannt werden.“

Zunächst einmal möge der Bundesrechnungshof das Projekt erneut prüfen. „Es geht um sehr viel Geld, es geht um ein riskantes Projekt.“ Für den SPD-Minister Friedrich war das eklatanter Verstoß gegen das Ergebnis der Volksabstimmung. Und der FDP-Fraktionschef Hans-Ulrich Rülke meldete sich mit der Bemerkung zu Wort, Kretschmanns Bekenntnisse zur Volksabstimmung seien „Heuchelei“. Verkehrsminister Hermann sage das, was Kretschmann wirklich denke. „Hermann ist der wahre Kretschmann.“

Vor der Kabinettssitzung kam es zu einer Aussprache zwischen dem Ministerpräsidenten und seinem Vize Nils Schmid von der SPD. In einer schriftlichen Stellungnahme zeigte sich Schmid „verwundert über den Alleingang von Ministerpräsident Kretschmann“. Der Brief an den Bahn-Vizeaufsichtsratschef Alexander Kirchner sei mit der SPD nicht abgestimmt gewesen. Weiter heißt es bei Schmid: „Die SPD bekräftigt die bisherige gemeinsame Linie, dass das Land keine Ausstiegsdebatte führt und sich an die Volksabstimmung gebunden sieht.“ Demnach werde das Land für Alternativlösungen kein Geld zur Verfügung stellen. Der Finanzierungsbeitrag sei an das Projekt Stuttgart 21 gebunden.

Gleiches, so Schmid, gelte für den Zuschuss zur Neubaustrecke Wendlingen-Ulm. Sollte die Bahn AG einen Projektabbruch beschließen, entfalle die Rechtsgrundlage für jegliche finanzielle Beteiligungen des Landes, im Gegenteil, dadurch entstünden Schadenersatzforderungen, die das Land „selbstverständlich geltend machen müsste“.

Grün-Rotes Endzeitgemälde

Mit einem Stopp des Projekts durch den Aufsichtsrat rechnete am Dienstagmorgen niemand in der Stuttgarter Regierungskoalition. Vielleicht malte SPD-Fraktionschef Schmiedel gerade deshalb das Ende von Stuttgart 21 besonders drastisch aus. Der Nachrichtenagentur dpa sagte Schmiedel, der Bahn-Aufsichtsrat müsse wissen, dass eine Landtagsmehrheit im Falle des Ausstiegs aus Stuttgart 21 durch die Deutsche Bahn die Landesregierung beauftragen werde, die Bahn auf Vertragserfüllung zu verklagen. Was bedeute, dass SPD gemeinsam mit CDU und FDP für eine Klage stimmen würde.

Kretschmann beschwichtigt

Dieses grün-rote Endzeitgemälde ging manchen in der SPD dann doch zu weit. Von Aufgeregtheiten im Vorfeld der Aufsichtsratsentscheidung war die Rede. „Da bekommen einige Schnappatmung.“ Auch Regierungschef Kretschmann suchte in der Pressekonferenz nach der Kabinettssitzung den Konflikt herunterzuspielen. „Alle sind sehr nervös“ , beschwichtigte er. Es handle sich um emotionale Äußerungen, da müsse der Ministerpräsident „kühlen Kopf behalten“, „mit Maß und Mitte regieren“ – und überhaupt liege in der Ruhe die Kraft. Schnell hatte er ein Zitat bei der Hand, dessen sich einst schon Erwin Teufel gern bediente: „Quidquid agis prudenter agas et respice finem.“ – „Was immer du tust, tue es klug und bedenke das Ende.“

Der Ministerpräsident verwies darauf, dass er mit seinem Brief nur einer Aufforderung des Bahn-Vizeaufsichtsratschefs Kirchner nachgekommen sei. „Meine Antwort hält sich an das, was wir besprochen haben.“ Aus Kretschmanns Umfeld verlautete, der Brief an die Bahn sei den SPD-Protagonisten Schmid und Schmiedel bekannt gewesen. Dies wurde von SPD-Seite bestätigt, das Schreiben sei aber nur zur Kenntnis gegeben worden – „ohne Interventionsmöglichkeit“. Die Frage, ob die Regierung im Falle eines Verzichts der Bahn auf Stuttgart 21 klagen (so die SPD) oder über Alternativen verhandeln (so Kretschmann) werde, ließ der Regierungschef offen – in dem Bewusstsein, dass es so weit erst einmal ohnehin nicht kommen werde. Am späten Nachmittag äußerten sich Kretschmann und Schmid dann schon wieder vereint zum zwischenzeitlich ergangenen Votum des Bahnaufsichtsrats.