Auch in Stuttgart klagen Anleger wegen Kursverlusten infolge der Dieselaffäre. Nun hat ein Richter einen Beschluss verfasst, der ihre Chancen verbessern dürfte. Im Zentrum seiner Argumentation: Ex-VW-Chef Winterkorn.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Andreas Müller (mül)

Stuttgart - In der Diesel-Abgasaffäre um Volkswagen steigen die Chancen von Geldanlegern, für Kursverluste wegen illegaler Motormanipulationen Schadenersatz zu erhalten. Ein am Montag im Bundesanzeiger veröffentlichter Beschluss des Landgerichts Stuttgart beurteilt die Aussichten dafür tendenziell günstig und erhöht zugleich den Druck auf VW und die Porsche Automobil-Holding als Mehrheitsaktionärin. Dabei stützt sich die zuständige Zivilkammer vor allem auf eine Information an den früheren VW-Chef Martin Winterkorn. Obwohl dieser nachweislich bereits anderthalb Jahre vor Bekanntwerden des Skandals über verbotene Abschalteinrichtungen in Dieselmotoren unterrichtet worden sei, habe er darauf nicht angemessen reagiert.

 

Vordergründig geht es im sogenannten Vorlagenbeschluss der 22. Zivilkammer um Fragen der Zuständigkeit in einem angestrebten Musterverfahren. Die Kammer folgt damit dem Antrag von Klägern, die Schadenersatz für Verluste mit VW- oder Porsche-Aktien fordern; Grund dafür sei die verspätete Information über die Motormanipulationen. Nun soll das übergeordnete Oberlandesgericht Stuttgart feststellen, dass für solche Prozesse zwei Gerichtsstände in Frage kommen: Braunschweig wegen des Sitzes von VW und Stuttgart wegen des Sitzes der Porsche-Holding. Zugleich soll das OLG den Klägern ein Wahlrecht zwischen den Gerichtsständen ermöglichen. In Braunschweig läuft bereits ein Musterverfahren, dort fordern geschädigte Anleger von VW etwa neun Milliarden Euro. In Stuttgart ist ein Musterverfahren beantragt; hier klagen Anleger vor allem gegen die Porsche-Holding, aber auch gegen VW. Es geht um gut eine Milliarde Euro. Die beklagten Unternehmen weisen die Forderungen zurück und sehen keinen Verstoß gegen Informationspflichten.

Brisante Unterlagen in der Wochenendpost

In dem 90-seitigen Beschluss des zuständigen Richters werden nicht nur die Zuständigkeiten, sondern die gesamten Haftungsfragen in der Dieselaffäre umfassend aufgearbeitet. Zentraler Ansatzpunkt ist dabei eine Information an Winterkorn als früheren Chef von VW und gleichzeitig der Porsche-Holding. Im Mai 2014 habe ihm ein inzwischen zurückgetretener VW-Manager unmittelbar ein Memorandum übermittelt, in dem davor gewarnt wurde, dass der Einsatz der Manipulationssoftware in den USA aufgedeckt werden könnte. Die Behörden könnten bald umfassende Untersuchungen vornehmen und feststellen, dass Volkswagen eine Abschalteinrichtung – Fachausdruck: „defeat device“ – installiert habe.

Zusammen mit dem Memorandum erhielt Winterkorn eine Notiz eines zweiten Mitarbeiters, der den weiteren Umgang mit der kalifornischen Umweltbehörde erläutert. Beide Unterlagen gehörten zu seiner sehr umfangreichen „Wochenendpost“. Wenige Tage zuvor hatte bereits der inzwischen zu sieben Jahren Haft verurteilte VW-Manager Oliver S. eine Mail an den Amerika-Chef von Volkswagen geschickt, in der er mögliche Konsequenzen der Ermittlungen der US-Behörden aufzeigte – von Geldstrafen bis hin zum Rückruf oder Rückkauf der Fahrzeuge.

Nur Eingeweihte unterhalb des Vorstands?

Laut dem Beschluss argumentiert VW in dem Verfahren bisher, dass nur ein Kreis von „Eingeweihten“ unterhalb der Vorstandsebene in die Manipulationen involviert gewesen sei; der Gesamtvorstand habe bis zum Sommer 2015 nichts davon gewusst. Diese Darstellung sieht der Richter durch VW „selbst widerlegt und erschüttert“. Der Konzern räume in einer Klageerwiderung ein, dass Winterkorn nach eigener Aussage das Memorandum „zur Kenntnis genommen und wohl auch (an-)gelesen“ habe, nicht aber die beigefügte Notiz. Er habe dem Vorgang „keine größere Bedeutung“ beigemessen und keinen Anlass gehabt, über die Informationen weiter nachzudenken, zumal keine finanziellen oder rechtlichen Risiken erwähnt worden seien, heiße es im VW-Schreiben.

Für den Richter ergibt sich daraus nicht nur, dass die Version von VW nicht zutreffe. Er äußert zugleich Zweifel, ob der Vorstandschef seinen Pflichten gerecht geworden sei. Ein Unternehmensleiter dürfe seinen Mitarbeitern nicht blind vertrauen, sondern müsse fragen, nachfassen und notfalls eingreifen, zumal wenn er technisch vorgebildet sei wie Winterkorn. Zu etwaigen Konsequenzen in Folge der Informationen sage VW aber nichts. Dabei sei der US-Dieselmarkt für Volkswagen ein „wirtschaftlich bedeutendes Standbein“ gewesen, den Hinweisen habe sich der Vorstandschef „nicht verschließen“ können.

Sittenwidrige Schädigung vermutet

Kritisch beurteilt der Richter nicht nur, dass damals keine Ad-hoc-Information an die Kapitalmärkte erfolgte, sondern auch die „fehlerhafte Finanzberichterstattung“. Spätestens nach dem Mai 2014 hätte Volkswagen in den Halbjahres- und Jahresberichten auf das Risiko durch die Dieselmotoren hinweisen müssen, dies aber nicht getan. Für den Richter kommt sogar eine Haftung wegen sittenwidriger vorsätzlicher Schädigung in Betracht, für die die Hürden besonders hoch sind. Sittenwidrig sei ein Verstoß gegen das „Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden“. Die erschlichene Zulassung und die Täuschung der US-Behörden genüge dafür noch nicht, wohl aber das Versäumnis Winterkorns, der Information an ihn sofort nachzugehen; dadurch habe er nämlich eine „Garantenstellung“ erhalten. Dass Winterkorn sein Wissen nicht an die Porsche Holding weitergegeben habe, stuft der Richter als Beihilfe zu einer unterlassenen Ad-hoc-Information ein. Insgesamt wertet das Gericht die Begehren der Kläger als schlüssig; von den Gegenargumenten von VW zeigt es sich nicht besonders überzeugt.