Trotz der Brexit-Entscheidung in Großbritannien hat Europa seine besten Tage noch vor sich - meint Ministerpräsident Winfried Kretschmann. Der Landtag ist sich weitgehend einig: Einfach so weitergehen darf es nicht.

Stuttgart - Freiheit, Frieden und Wohlstand - nach der Brexit-Entscheidung der Briten haben Politiker im Landtag parteiübergreifend dafür geworben, die europäischen Werte wieder stärker ins Bewusstsein zu rücken. Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) sprach sich für einen „neuen Europäischen Geist“ aus. In einer Regierungserklärung unterstrich er am Mittwoch die Vorteile und Errungenschaften Europas für Deutschland und Baden-Württemberg. Mehr als 70 Jahre Frieden seien der europäischen Einigung zu verdanken. „Heute gilt auf europäischem Boden: Worte statt Waffen, Gipfel statt Granaten, Kooperation statt Krieg.“

 

Profiteure von Europa

Gerade der Südwesten mit seiner exportorientierten Wirtschaft profitiere von Europa. „Ohne die europäische Einigung, ohne den europäischen Binnenmarkt, wären wir nicht so wohlhabend wie wir sind“, sagte Kretschmann. „Auch das sollten wir nie vergessen.“

Bei aller Sorge sahen Grüne, CDU, SPD und FDP in der Austrittsentscheidung der Briten auch einen Weckruf für die Reform der EU. „Das ist nicht das Ende der Europäischen Union, aber es ist ein lautes, unüberhörbares Warnsignal - für uns alle“, sagte Grünen-Fraktionschef Andreas Schwarz in der Debatte, die Kretschmanns Erklärung folgte.

Redner aller Fraktionen betonten, die EU müsse weniger zentralistisch sein und Aufgaben in die Regionen und Nationalstaaten verlagern. „Mehr Subsidiarität heißt in manchen Bereichen ‚Mehr Europa’ und in anderen weniger - jede Ebene sollte sich um die Dinge kümmern, die sie am besten kann“, erläuterte Kretschmann. FDP-Fraktionschef Hans-Ulrich Rülke sagte: „Mehr Stuttgart und weniger Brüssel.“

Kostenträchtige Gemeinschaft

Sein SPD-Kollege Andreas Stoch betonte, die EU dürfe ihren Mitgliedstaaten nicht länger als Sündenbock für interne Probleme dienen. Es wundere ihn nicht, dass Menschen sich von der EU abkehrten. Denn Regierungen malten jahrelang Schreckensbilder einer kostenträchtigen Gemeinschaft, die wenig zurückgebe. Überdies dürften sich nicht Neoliberalismus, Marktradikalismus und eine Romantisierung der Nationalstaatlichkeit breitmachen. Ein Diskurs über gemeinsame Grundwerte müsse der Krise der Demokratie in Europa entgegenwirken. „Es darf kein „Weiter so“ geben“, resümierte er.

CDU-Fraktionschef Wolfgang Reinhart betonte, die Freizügigkeit und Rechtssicherheit in ganz Europa seien vielen mittlerweile selbstverständlich geworden. Manch einer sehe die EU stattdessen nur noch als anonyme Superbehörde, die vertraute und bewährte regionale und nationale Eigenheiten bedrohe. „Europa wird fast zum Opfer seines Erfolges“, stellte er fest.

Groteske Normen

Der Vorsitzende der AfD-Fraktion, Jörg Meuthen, verlangte, die EU dürfe sich nicht länger mit grotesken Normen etwa zur Größe einer Pizza oder zur maximalen Watt-Zahl von Staubsaugern beschäftigen. Zudem dürften die EU-Beamten in Brüssel und Straßburg nicht mehr länger wie „die Made im Speck“ von den Steuergeldern der Bürger leben, von denen sie sich mit den Jahren meilenweit entfernt hätten.

Kretschmann nannte die Brexit-Entscheidung am 23. Juni einen „bitteren Tag für die europäische Einigung“ und für den Südwesten. Kaum ein Land habe dem europäischen Einigungsprozess so viel zu verdanken wie Baden-Württemberg. „Gerade in dieser tiefen Krise Europas sage ich deshalb ganz klar: Die Europäische Integration gehört für uns in Baden-Württemberg zur Staatsräson.“ Das Herz des Landes schlage für Europa. Die Entscheidung der Briten müsse man aber respektieren.

Keine überzeugende Antworten

Die europäische Einigung sei aber anstrengend, mühsam und kräftezehrend. Etwa in der Flüchtlingskrise habe Europa keine überzeugenden Antworten gegeben und keine ausreichende Handlungsfähigkeit gezeigt. „Diese Schwächen in der politischen Architektur Europas müssen klar und offen angesprochen und angegangen werden. Aber vergessen wir nie, was wir an diesem Europa haben. Es ist das beste, das wir je hatten.“