Bei ihrer Reise durch die Ukraine macht die Delegation des baden-württembergischen Landtags die schmerzliche Erfahrung, dass der Föderalismus dort keine Freunde hat und Vitali Klitschko ein netter Mann ist.

Kiew/Stuttgart - Die Möglichkeiten des baden-württembergischen Landtags zur Stabilisierung der Ukraine mögen begrenzt sein, aber ein Autogramm von Vitali Klitschko müsste sich doch ergattern lassen. Aber verdammt: wo bleibt Klitschko?

 

Aufgereiht wie die Hühner auf der Stange stehen die Abgeordneten des Innenausschusses samt Innenminister Reinhold Gall (SPD) in einem Konferenzsaal hoch oben im wuchtigen Bau des Kiewer Rathauses. Am Abend zuvor, beim Empfang in der Residenz des deutschen Botschafters Christof Weil, hatte sich der Champion Emeritus des Schwergewichtsboxens noch entschuldigen lassen. Seit seiner Wahl zum Bürgermeister von Kiew vor einem Jahr ist Klitschko ein viel beschäftigter Mann.

Verstohlene Blicke auf diskret entblößte Armbanduhren verraten: die Sorge nagt an den Gemütern der Parlamentarier aus dem fernen Stuttgart. Das Treffen mit der stellvertretenden Innenministerin wurde bereits abgesagt, lässt jetzt auch Klitschko sie im Stich? Die weiße Kassettendecke mit den prächtigen Kristallleuchtern, die himmelblauen Wände mit grünen Stoffeinlagen und die weiten Vorhänge schüchtern die Delegation ein.

Nur die Nase verrät den Boxer

Kiew, die Hauptstadt am Dnjepr ist eine Stadt mit durchaus imperialer Anmutung. Golden leuchten die Kuppeln der Kathedralen in der Maisonne. In ihrem Glanz entspricht die Stadt so gar nicht den Erwartungen der Abgeordneten, die immer wieder einträchtig konstatieren, wie sauber die Straßen doch seien. In Stuttgart sehe es vielerorts auch nicht besser aus, raunen sie sich zu. Kann es ein schöneres Lob geben?

Da kommt er, Vitali Klitschko. Also doch, groß, rank und schlank sieht er aus, gar nicht wie ein abgehalfterter Boxer. Mit erstaunlich feingliedrigen Händen, wie ein aufmerksamer Beobachter feststellt. Nur die etwas breite Nase verrät, dass der Bürgermeister in seinem Leben schon anderes tat, als Akten zu lesen. 87,27 Prozent von Klitschkos Gegnern im Ring gingen k. o., errechnete ein flinker Kopf. Aber um in der ukrainischen Politik zu überleben, braucht es mehr als eine starke Schlaghand aus sicherer Deckung. Die Dinge liegen etwas komplizierter.

Klitschko ist eine wichtige Figur im Machtspiel. Ohne ihn und seine Partei Udar wäre Petro Poroschenko nach den Euromaidan-Protesten kaum Präsident geworden. Aber der Unternehmer Poroschenko ist Milliardär, er zählt zur Riege der ukrainischen Oligarchen. Klitschko ist Millionär. Im Boxring kämpfte er als Schwergewichtler, in der Politik fightet er allenfalls in der Mittelgewichtsklasse. Den Deutschen freilich gilt er als unentbehrlicher Ansprechpartner. Und auch Klitschko wirkt ehrlich erfreut über die Besucher aus Baden-Württemberg, die er als „liebe Freunde“ begrüßt. Freunde, das macht er schnell klar, haben die an Europa orientierten Reformkräfte dringend nötig. „Ohne Unterstützung wird es für die Ukraine schwer werden zu überleben.“

Eine Reise in ein zerrissenes Land

Mag Kiew auch leuchten, so ist die Ukraine doch ein zerrissenes Land. Die Hauptstadt gaukelt Normalität vor, doch der Krieg im Osten schwelt weiter. Investoren machen sich rar, die Wirtschaft schrumpft, die Kaufkraft der Menschen implodiert. Die Westorientierung ist ein Programm, das die aktuellen Alltagsprobleme der breiten Mehrheit verfehlt.

Die Europafreunde in der Regierung neigen, das wird in den Gesprächen der Abgeordneten deutlich, zu einem manichäischen Weltbild. Ein hoher Beamter des Außenministeriums drückt es so aus: Europa verspreche Werte, Stabilität, Wohlstand. Putins Russland aber bringe Furcht und Destabilisierung. Vom Westen fordert er unverhohlen Waffen; ein Ansinnen, dem sich die Europäer bis jetzt verweigern.

Hellhörig werden die Abgeordneten aus Stuttgart indes bei einem anderen Thema. Die neue Regierung in Kiew hat sich die Dezentralisierung ihres streng zentralistisch regierten Staats auf die Fahnen geschrieben. Wo es um dezentrale, womöglich föderale Strukturen geht, fühlte sich bisher noch jedes Expeditionskorps aus Baden-Württemberg zur Hilfe berufen. Doch meist, und so auch in der Ukraine, stellt sich schnell Ernüchterung ein, denn die Sache ist für die Regierung keine Herzensangelegenheit. Sie reagiert nur auf die zentrifugalen Kräfte im Land.

Förderalismus ist ein vergifteter Begriff

In der Westukraine gibt es das Verlangen nach mehr regionaler Selbstverwaltung. Damit könnte die Regierung in Kiew noch umgehen. In der Ostukraine aber geht es ums Ganze. Einerseits muss die Regierung einen Weg finden, die völlige Loslösung der russisch kontrollierten Gebiete zu verhindern, zum Beispiel mit dem Versprechen nach mehr Eigenständigkeit.

Doch damit begibt sie sich in eine neue Gefahr. Ein deutscher Kenner der Verhältnisse sagt es so: Russlands Präsident Wladimir Putin sei bereit, den Konflikt zu beenden, wenn die Ostukraine nach einer Föderalisierung Einfluss auf die Außenpolitik der Ukraine gewinne und damit eine weitere Öffnung in Richtung Westen verhindern könne. Das aber sei für die Regierung in Kiew nicht akzeptabel. Aus solchen Gründen, kommentiert ein deutscher Beobachter, ist „Föderalismus in der Ukraine ein vergifteter Begriff“. Föderalismus wird als Trojanisches Pferd der Russen verstanden. Deshalb ist auch von „Dezentralisierung“ die Rede, ein vager Begriff.

Vitali Klitschko sagt, Deutschland könne „eines der besten Beispiele geben, wie Selbstverwaltung funktioniert“. Doch eine genaue Vorstellung davon gibt es in der Ukraine offenkundig nicht. Davon kann Achim Staudenmaier berichten. Der Polizeihauptkommissar vom Polizeirevier in Stuttgart-Möhringen arbeitet seit Anfang April in Kiew als Teil einer Beratungsmission der Europäischen Union zur Reform des zivilen Sicherheitssektors, also der Polizei. Sie soll auf der untersten Ebene kommunalisiert werden. „Aber keiner weiß, wie das aussehen soll“, sagt Staudenmaier. Die ukrainischen Polizisten gelten als schlecht bezahlt und daher anfällig für Korruption.

Am Ende gibt es Fotos und die erhofften Autogrammkarten

Im ukrainischen Parlament lädt Innenminister Gall (SPD) den Vorsitzenden des Innenausschusses zum Informationsbesuch nach Baden-Württemberg ein. Doch auch Gall trifft auf begrenzte Begeisterung für den deutschen Föderalismus, denn der Ausschussvorsitzende, ein ehemaliger Polizeimajor, antwortet recht kühl, er sei ja nun schon mehrmals beim Bundeskriminalamt in Wiesbaden gewesen. Thomas Blenke (CDU) resümiert, die Ukrainer müssten „noch ein gutes Stück Weg gehen, um der Dezentralisierung näher zu kommen“. Hans-Ulrich Sckerl von den Grünen meint: „Man muss der Ukraine Zeit lassen.“

Die Frage ist nur, ob den Reformkräften nicht die Zeit davonläuft. Immerhin: die Delegation des Landtags kann auf seiner Informationsreise doch noch einen Erfolg erzielen. Im Kiewer Rathaus zieht Vitali einen dicken Packen Autogrammkarten aus der Jackentasche. Er weiß, was seinen Gästen Freude bereitet. Und auch ein zweiter Wunsch wird erfüllt. „Können wir noch Fotos machen“, will Hans-Ulrich Sckerl wissen. Aber ja doch. Klitschko bittet zum Gruppenfoto, auf Wunsch der Abgeordneten nach Fraktionen getrennt – für die Internetpräsenz zu Hause.