Am Wahlabend bleibt offen, wer am Ende in Thüringen den Sieger stellen wird: CDU oder Linkspartei. Die Etappe, die jetzt noch kommt, bis eine Regierungskoalition steht, wird für alle Beteiligten schwierig.

Erfurt - Katja Kipping, die Chefin der Linkspartei im Bund, ist extra früh gekommen. Schon bevor die Wahllokale geschlossen hatten, stand sie von Kameras umringt im Palmenhaus von Erfurt, um zu feiern und sich feiern zu lassen. Die Golden Sixties Band, die die Linke angeheuert hatte, um die Wahlpartybesucher in Feierlaune zu versetzen, spielte „Imagine“, die Hoffnungshymne von John Lennon. Doch für die Thüringer Linken sieht an diesem Wahlabend, auf den sie so große Hoffnungen gesetzt hatten, zunächst einmal alles so aus, als würden ihre großen Träume platzen.

 

Zwar geht Steffen Dittes, der Vizelandesparteichef, unmittelbar nach der ersten Prognose ans Mikrofon, damit die Gäste, die gekommen sind, um einen historischen Sieg zu feiern, nicht die Hoffnungen fahren lassen. „Prognosen sind noch keine Ergebnisse“, ruft er den Genossen aufmunternd zu. Und dass die Thüringer Linken sich darüber freuen können, das sehr gute Ergebnis von der vorigen Wahl noch mal verbessert zu haben.

Die Linkspartei hat sich viel erhofft. Den Politikwechsel wollen sie stemmen und das erste rot-rote (oder rot-rot-grüne) Regierungsbündnis unter Führung der Linkspartei schmieden. Doch die ersten Prognosen lassen sie bibbern. Unklar ist, ob der Abend ihnen den historischen Erfolg bescheren wird, auf den die Partei mit ihrem Spitzenkandidaten Bodo Ramelow so hart und konsequent hingearbeitet hat.

Katerstimmung bei der SPD

Es ist ein vielsagendes Bild, als Katja Kipping schließlich auf die Bühne und ans Mikrofon tritt. Denn sie hat die christdemokratische Herausforderin Christine Lieberknecht auf dem Fernsehschirm im Nacken, die sich gerade über den stärksten Stimmengewinn aller Parteien in Thüringen freuen kann. Lieberknecht hat bei der Wahlparty der Linken zwar keinen Ton, trotzdem klingt es fade, wie Kipping das „tolle“, im Vergleich zur vorigen Wahl noch verbesserte Ergebnis lobt. Wenig später tritt Bodo Ramelow auf, seine Frau im Arm und Hund Attila an der Leine. Er wird mit rhythmischem Klatschen begrüßt und erklärt schlankweg, dass „die Linke die Wahl gewonnen“ habe. Im Wahlergebnis sehe er den Wählerauftrag, „den Politikwechsel einzuleiten“.

Einige Kilometer weiter, bei der politischen Konkurrenz, nimmt sich das aber ganz anders aus. Bei der SPD herrscht erst einmal Katerstimmung. Die Sozialdemokratie sei im Wahlkampf zwischen CDU und Linker zerrieben worden, analysiert Parteichef Christoph Matschie. Ohne die SPD, auch wenn diese deutlich unter den Erwartungen bleibt, wird aber wohl keine Regierung zu bilden sein – zumindest wenn sich die CDU an ihre eigenen Beteuerungen hält, nicht mit der AfD zu koalieren.

Die Grünen würden einen politischen Wechsel gutheißen

Und so lässt SPD-Spitzenkandidatin Heike Taubert, bisher Sozialministerin, am Wahlabend auch noch nicht durchblicken, wem sie nun wohl mehr zugeneigt ist, der Linken oder ihrem bisherigen Partner CDU. Es wird knapp, hier wie da. Eine endgültige Entscheidung könne wohl erst „in den nächsten Wochen“ fallen, wenn das Parteivolk gesprochen habe. Damit erlebt Thüringen möglicherweise ein Referendum der besonderen Art: Ganze 4000 SPD-Mitglieder entscheiden darüber, wer das wirtschaftlich stärkste Ostbundesland die nächsten fünf Jahre regiert. Zuletzt schien dabei ein Weiter-so mit der sich seit 24 Jahren durch alle Hochs und Tiefs lavierenden CDU nur die zweitwahrscheinlichste Variante zu sein. Dafür sprach auch, dass die Grünen zuvor zwar keine offizielle Präferenz für Rot-Rot-Grün abgaben, jedoch erkennen ließen, dass Thüringen ein „politischer Wechsel guttäte“, so Spitzenkandidatin Anja Siegesmund am Wahlabend. Selbst der Stuttgarter Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) brachte sie diesbezüglich nicht ins Schwanken, als er bei seiner Wahlkampfhilfsvisite in Thüringen recht barsch beteuerte, er halte „von der Linken nichts“, schon gar nicht sei sie im Bund bündnisfähig.

Will die CDU weiter an der Macht bleiben, muss sie ihrerseits die SPD umgarnen. Das war ihr schon 2009 schwergefallen. Möglich wurde die Koalition dadurch, dass die stark angeschlagene CDU damals der deutlich schwächeren SPD ebenso viele Ministerposten zugestand wie sich selbst. Doch dann legte Lieberknecht wieder zu, wenn auch nur leicht, während die SPD weiter verlor. Der alte Trumpf sticht also nicht mehr. Und so muss man denn auch aufhorchen, wenn SPD-Landeschef Matschie am Wahlabend plötzlich „die gute Regierungspolitik“ beschwört, die man seit 2009 mit der Union gemacht habe. Denn fast jeden Regierungsknatsch brach die SPD vom Zaun.

Die „konservative“ Truppe mag die Lieberknecht nicht

Zumindest ist jetzt Christine Lieberknecht gefragt. Sie führt nach wie vor die stärkste Partei, was sie „überaus glücklich“ gemacht habe, wie sie in einem ersten emotionalen Ausbruch ausrief. Sie darf zu Sondierungsrunden einladen. Ob sie noch jemanden dazu bittet, wird in den nächsten Tagen für ebenso viel Spannung sorgen wie das gegenseitige Herantasten von Ramelow an SPD und Linke. Denn so klar, wie sich die Regierungschefin gegen die AfD positioniert hatte, sehen es nicht alle in ihrer Landespartei. Der Landtagsabgeordnete Wolfgang Fiedler forderte bereits Ende August, sich „keinen Sondierungsgesprächen mit ihr zu verweigern, falls es für eine gemeinsame Mehrheit reicht“. Denn wenn die SPD „plant, einen Linken zum Ministerpräsidenten zu wählen, sollten wir nicht von vornherein eine mögliche Option ausschließen“, so Fiedler. Sollte es so weit kommen, würden wohl auch bei der CDU die Karten neu gemischt. Dann bekäme womöglich der bisherige Landtagsfraktionschef Mike Mohring jene Chance, auf die er schon so lange wartet. Er führt die „konservative“ Truppe in der Partei an – und die mag die moderate Lieberknecht nicht.

Die Etappe, die jetzt noch kommt, bis eine Koalition steht, wird für alle Beteiligten schwierig. Bei derart knappen Verhältnissen wird Ramelow, wenn er überhaupt die Chance dazu bekommt, ein Meisterstück abliefern müssen. Im Wahlkampf hat er es verstanden, ideologische Differenzen mit potenziellen Partnern mit seinem handlungsorientierten Pragmatismus einzuebnen. Jetzt muss er beweisen, dass er politische Unterschiede nicht nur verwischen, sondern Brücken zwischen seinen Genossen und seinen Wunschkoalitionären bei den Grünen und bei der SPD bauen kann.

Das ist keine leichte Übung für einen Politiker, der sich einst den Ruf erworben hat, nicht nur dünnhäutig und streitlustig, sondern auch noch stolz auf seine konfrontativen Qualitäten zu sein. Zwar hat Ramelow seine Lektion gelernt, als die erste Chance auf ein rot-rot-grünes Bündnis in Thüringen vor fünf Jahren nicht nur an politischen Differenzen scheiterte, sondern auch, weil die potenziellen Bündnispartner in seinen Temperamentsausbrüchen einen Ausweis mangelnder Regierungsfähigkeit erkannten. Nicht nur Parteifreunde bescheinigen ihm aber, seither dazugelernt zu haben.