Berlin - Als vor dreißig Jahren die DDR zusammenbrach, lautete das große Versprechen des Westens an die Bürger des untergehenden Staates: Freiheit, Demokratie und Wohlstand für alle. In der Euphorie des historischen Moments malte der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) das Bild der „blühenden Landschaften“, die sich innerhalb weniger Jahre in den neuen Bundesländern entwickeln sollten. Bekanntlich war die Aufgabe der Wiedervereinigung größer, teurer und beschwerlicher, als es für viele damals den Anschein hatte.
Während wenige ostdeutsche Boomregionen wie Leipzig oder Potsdam in mancher Hinsicht besser dastehen als strukturschwache Regionen im Westen und auch die Arbeitslosenquoten wieder viel näher zusammengerückt sind, haben viele Landstriche in den neuen Ländern wirtschaftlich und sozial bei weitem noch nicht das Niveau der alten Bundesländer erreicht. Der kürzlich vorgelegte Regierungsbericht zur Gleichheit der Lebensverhältnisse in Deutschland bescheinigte der ostdeutschen Wirtschaft eine „flächendeckende Strukturschwäche“, die mit geringerer Produktivität und niedrigerem Lohnniveau einhergehe. Die zurückgegangene Erwerbslosenrate hat nämlich auch viel mit einer massiven Abwanderung in Richtung Westen zu tun.
Übertragen auf eine Deutschlandkarte lassen sich die unterschiedlichen Lebensverhältnisse im Land gut nachvollziehen. Vielfach lässt sich dabei gar problemlos erkennen, wo einst die innerdeutsche Grenze verlief: Etwa bei der Wirtschaftskraft, dem Anteil der ausländischen Bevölkerung oder der Kita-Quote.
Warum diese in vielen Bereichen unvollendete deutsche Einheit politisch Verantwortliche zunehmend beunruhigt, zeigt eine Karte mit den Ergebnissen der Europawahl: In Brandenburg und Sachsen wurde die AfD stärkste Kraft, die sich damit endgültig als blaues Bollwerk im Osten der Republik etabliert.
Am Sonntag sind die Brandenburger und Sachsen zu Landtagswahlen aufgerufen. Während in Sachsen seit der Wiedervereinigung nie eine andere Partei als die CDU als Siegerin aus einer Landtagswahl hervorging und den Ministerpräsidenten stellte, nimmt in Brandenburg die SPD diese Vormachtstellung ein. Sachsens christdemokratischer Ministerpräsident Michael Kretschmer regiert derzeit mit der SPD, Brandenburgs sozialdemokratischer Regierungschef Dietmar Woidke führt eine Koalition mit der Linken. Umfragen zufolge dürfte die AfD durch massive Zugewinne in beiden Ländern dazu beitragen, dass die bisherigen Bündnisse am Sonntag ihre Mehrheiten verlieren. Woidke muss sogar fürchten, dass die AfD mehr Stimmen als seine SPD erhält.
Dabei gibt es auch positive Trends und Angleichungen zwischen West und Ost: So schließt sich die Schere bei der Arbeitslosigkeit. Und auch die Lücke bei der Rente verschwindet zusehends. Dennoch zeigen sich in der Mentalität noch deutliche Unterschiede: Etwa bei der Frage, ob ein muslimischer Nachbar als Problem betrachtet wird.
Zumindest in Teilen der ostdeutschen Bevölkerung lässt sich eine tiefe Enttäuschung ausmachen, die trotz aller noch bestehenden Ungleichheiten zwischen Ost und West die auch in den neuen Ländern fortschreitende wirtschaftliche Entwicklung in der persönlichen Wahrnehmung überdeckt.
Erklärungsversuche verweisen als Ursache für die Entfremdung neben einer Verunsicherung durch die Flüchtlingspolitik von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) auch auf die Brüche in zahlreichen ostdeutschen Biografien, auf den Verlust von kultureller Identität und auf Minderwertigkeitsgefühle angesichts der Übermacht des Westens in allen Lebensbereichen. Es geht demnach also um Ängste, Verletzungen und Enttäuschungen. Die lassen sich oft schwer in Statistiken und Grafiken fassen. Bis sie sich am Wahlabend in den bunten Balken der Hochrechnungen manifestieren.