Mancher Angeklagte muss Jahre auf seinen Prozess warten. Das liegt zum einen an der Überlastung der Justiz, der Richterbund schiebt aber auch den Verteidigern den Schwarzen Peter zu.

Stuttgart - Ende November 2013 öffnen sich für Stefan C. (Name geändert) die Gefängnistore. Zwei Monate hat der 55-Jährige aus dem Rems-Murr-Kreis als Untersuchungshäftling hinter Gittern verbracht. Der wegen Verstoßes gegen das Arzneimittelgesetz ins Visier der Justiz geratene Mann gilt als sozial integriert, es besteht keine Fluchtgefahr. Stefan C. fällt ein Stein vom Herzen. Dass die wirklich harte Zeit erst noch kommt, ahnt er nicht.

 

Denn jetzt beginnt das lange, zermürbende Warten. Die Mühlen der Justiz mahlen manchmal sehr langsam.

Viel zu langsam, kritisiert der Deutsche Richterbund. „Die Große Koalition muss ihr Versprechen einlösen und noch vor der Bundestagswahl ein schlankeres und praktikableres Prozessrecht beschließen“, fordert DRB-Bundesgeschäftsführer Sven Rebehn.

Haftsachen gehen vor

Stefan C. würde diese Forderung sofort unterschreiben. Der 55-Jährige aus dem Remstal hatte seine zweimonatige Untersuchungshaft bereits dreieinhalb Jahre hinter sich, als sein Prozess vor dem Stuttgarter Landgericht begann. Und immer die Fragen: Muss ich hinter Gitter, verliere ich meine Existenz?

Hätten die Behörden Stefan C. damals in U-Haft behalten, wäre sein Verfahren schon lange vom Tisch. Haftsachen gehen vor, Nichthaftsachen liegen oft wie Blei auf den Schreibtischen der stark belasteten Staatsanwaltschaften und Strafkammern.

DRB-Geschäftsführer Rebehn kritisiert das. „In Wirtschaftsstrafverfahren oder Prozessen wegen Internetkriminalität müssen Gerichte immer wieder Strafrabatte gewähren, weil die Verfahren zu lange gedauert haben“, sagt er. Rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung ist der Fachbegriff dafür. Eine solche kommt aber auch bei einem „Wald- und Wiesen-Fall“ wie dem des Stefan C. vor.

Staatsanwaltschaften entwickeln sich zum Nadelöhr

Der richtige Anspruch, Strafen möglichst rasch nach der Tat zu verhängen, bleibe bei einer chronisch unterbesetzten Justiz vielfach ein frommer Wunsch, so Rebehn. „Insbesondere die Staatsanwaltschaften entwickeln sich im Kampf gegen Terrorismus, organisiertem Verbrechen, Cybercrime und Alltagskriminalität mehr und mehr zum Nadelöhr“, beklagt Rebehn. In Baden-Württemberg fehlten beispielsweise knapp 120 Staatsanwälte, in Bayern gar 270 und in Hessen bis zu 140 Strafverfolger.

Trotzdem steht das Landgericht Stuttgart gut da. Die durchschnittliche Verfahrensdauer bei allgemeinen Strafsachen liegt bei 5,8 Monate. Bundesweit beläuft sich diese auf 7,3 Monate. Trotzdem: „Überlange Verfahren sind auch bei uns ein Problem und stellen das Gericht vor personelle Herausforderungen“, sagt Bettina Gebert, Präsidialrichterin am Landgericht Stuttgart. Die junge Richterin weiß, wovon sie spricht. Sie ist Mitglied in einer Wirtschaftsstrafkammer und hat als Pressesprecherin den fast schon legendären Nic-Stic-Prozess vor der 6. Wirtschaftsstrafkammer des Stuttgarter Landgerichts beobachtet.

Das Verfahren um einen Anlagebetrug in Millionenhöhe wirft ein Licht auf eine andere Art von überlanger Verfahrensdauer. Der Prozess währte 197 Verhandlungstage. Der Vorsitzende Richter nahm sich bei der Urteilsbegründung die Verteidiger zur Brust. Mit formal zwar korrektem, aber nicht an der Wahrheitsfindung orientiertem Verhalten hätten sie versucht, das Gericht zu zermürben. Allein 18 Befangenheitsanträge zogen das Verfahren nach Ansicht der Richter unnötig in die Länge.

Verteidiger können Prozesse oft in die Länge ziehen.

Es müssen aber nicht immer Wirtschaftsstrafsachen sein, die elend lang dauern. Beim Hauptverfahren gegen Mitglieder einer Straßengang in Stuttgart, das sich über mehr als zwei Jahre zog, demonstrierten einige Verteidiger, was sie unter Prozessökonomie verstehen. An manchen Tagen bestanden sie bei jeder Kleinigkeit auf einen Kammerbeschluss. Soll heißen: Antrag auf Beschluss, die Kammer verlässt den Saal, berät sich, kehrt zurück, verkündet den Beschluss, weiterer Antrag, die Kammer verlässt den Saal, berät sich . . . Kammer-Jogging wird das in Verteidigerkreisen genannt. Das Strafprozessrecht lässt dies zu.

Der Deutsche Richterbund fordert Abhilfe vom Gesetzgeber. Wichtig sei unter anderem, dass in letzter Minute gestellte Befangenheitsanträge gegen das Gericht künftig nicht mehr dazu führen können, den Prozessauftakt zu blockieren, so Sven Rebehn. Zudem müssten Gerichte Beweisanträge besser in den Griff bekommen können, die mitunter scheibchenweise gestellt werden, um den Prozess zu verschleppen.

Ulrike Paul, Präsidentin der Rechtsanwaltskammer Stuttgart, hält dagegen. „Das Beweisrecht ist ein zentrales Recht der Verteidigung. Es kann nicht beschränkt werden, ohne dass damit die Rechte des Beschuldigten ein geschränkt werden“, so Paul. An der Überlastung der Strafjustiz seien entgegen den Ausführungen des Deutschen Richterbunds nicht die Verteidiger schuld, und: „Nicht die Strafprozessordnung ist zu lasch, sondern die Personaldecke der Justiz ist zu dünn.“

Das längste Verfahren dauerte 591 Tage

Die Strafverteidigerinnen und -verteidiger als böse Mädels und Buben des Justizbetriebs an den Pranger zu stellen, geht am Problem vorbei. Sie nutzen die ihnen zur Verfügung stehenden Mittel, weiter nichts. Wie Verteidiger Martin Stirnweiß im sogenannten Exorzisten-Fall. Stirnweiß, überzeugt davon, dass sein Mandant das mutmaßliche Opfer im Zuge einer Dämonenaustreibung nicht vergewaltigt hatte, stellte vor dem Landgericht Stuttgart einen Antrag nach dem anderen. Schließlich stellte sich heraus, dass die Verfehlung seines Mandanten viel weniger gravierend gewesen war als in der Anklage formuliert. Das Gericht schickte den Angeklagten nach einem Verfahren, das erheblich länger gedauert hatte als geplant, schließlich nach Hause.

Wenn wie am Landgericht Koblenz Konfliktverteidigung auf lasche Prozessführung trifft, ist das Desaster programmiert. In Koblenz ist vergangene Woche der Prozess gegen 17 mutmaßliche Neonazis geplatzt – nach mehr als 300 Verhandlungstagen, weil der Vorsitzende Richter das Pensionsalter erreicht hatte. „Ich habe noch keinen Prozess erlebt, der so aus dem Ruder gelaufen ist“, so ein Verteidiger. So seien manche Zeugen über Tage hinweg vernommen worden. Dies ging soweit, dass die Verteidigung laut dem Magazin „Spiegel“ witzelte, man hätte besagte Zeugen ruhig auch noch über das Wetter befragen können.

NSU -Prozess dauert schon länger als 300 Tage.

300 Verhandlungstage? Diese Zahl hat der Münchener NSU-Prozess gegen Beate Zschäpe und ihre mutmaßlichen Komplizen schon weit überboten. Seit mehr als 360 Tagen versucht das Oberlandesgericht München, Licht in das mörderische Treiben des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) zu bringen. Der Prozess geht ins fünfte Jahr.

Das längste Verfahren der deutschen Nachkriegszeit ist und bleibt jedoch der Prozess um den Mord an dem Linksterroristen und V-Mann Ulrich Schmücker in Berlin. Er begann 1976 und endete 1991 nach 591 Verhandlungstagen und vier Verfahren. Der Geheimdienst hatte die Aufklärung torpediert, er ließ sogar die Tatwaffe verschwinden. Nach 15 Jahren wurde das Verfahren eingestellt, weil die Wahrheit nicht mehr zu ermitteln war.

Das Urteil treibt Stefan C. Tränen in die Augen

Und der wegen Verstoßes gegen das Arzneimittelgesetz angeklagte Stefan C.? Bei der Urteilsverkündung schossen dem Mann mit der Statur eines Wandschranks die Tränen in die Augen – Bewährung.

Dauerbrenner überlange Verfahrensdauer: „Der Prozess muss in möglichst kurzer Zeit abgeschlossen werden.“ Dieser Satz des Rechtsphilosophen und Strafrechtsreformers Cesare Beccaria ist brandaktuell. Er datiert aus dem Jahr 1764.