Lange Wartelisten in Stuttgart Das Glücksspiel um einen Pflegeplatz für junge Menschen

Giuseppe hat einen Platz in der Jungen Pflege im Mehrgenerationenhaus Heslach – und ist froh darüber. Giuseppe hat einen Platz in der Jungen Pflege im Mehrgenerationenhaus Heslach – und ist froh darüber. Foto: Lichtgut/Julian Rettig

Die Betroffenen haben es schwer, einen Platz im ambulanten und im stationären Wohnen zu finden. Nicht nur in der Jungen Pflege im Mehrgenerationenhaus Heslach gehen regelmäßig verzweifelte Anrufe ein.

Familie/Bildung/Soziales: Viola Volland (vv)

Stuttgart - Mark Müller ist 23 Jahre alt – und ein Vollpflegefall. Ein Unfall im April 2019 riss den Auszubildenden aus seinem bisherigen Leben. „Er ist querschnittsgelähmt und auf eine 24-Stunden-Betreuung angewiesen“, berichtet sein älterer Bruder Dominik (Namen der Familie geändert). Doch bei ihnen in der Familie sei „niemand, der das stemmen kann“. Dominik Müller hat die Aufgabe übernommen, zumindest die Unterbringung zu regeln. Von Berlin aus rief er alle Institutionen an, die Plätze in der jungen Pflege im Umkreis von Stuttgart anbieten – und merkte schnell: „Da hat man keine Auswahl.“ Immer wieder hörte er den gleichen Satz: „Wir sind voll.“ Ein Jahr Wartezeit habe man ihm meist als Richtschnur genannt.

 

Auch Achim Hoffer hat Dominik Müller vertröstet – und nicht nur ihn. Verzweifelte Anrufe von Angehörigen erreichen den Geschäftsführer des Körperbehindertenvereins Stuttgart (KBV) häufig. Auf Anhieb fielen ihm vier junge Menschen ein, die dringend eine barrierefreie Wohnung mit entsprechender pflegerischer, hauswirtschaftlicher und zum Teil auch pädagogischer Unterstützung benötigten, so Hoffer. Alle führten zuvor ein „normales“ Leben, seien nun nach einem Unfall oder einem Schlaganfall auf den Rollstuhl und auf Assistenz angewiesen. „Freie Wohnungen gibt es aber zumindest in den Wohnhäusern, in denen wir unsere Dienstleistungen anbieten, keine“, so Hoffer. 50 Personen unterstützt der KBV im ambulant betreuten Wohnen. Bei Menschen, die ihre Behinderung schon im sehr jungen Alter erworben haben, lasse sich der Auszug aus dem Elternhaus im Vergleich besser steuern – die Familien ließen ihre Kinder oft schon frühzeitig auf die Warteliste setzen. Anders sieht das bei plötzlichen Schicksalsschlägen aus.

Nach der Reha mit 31 Jahren ins Pflegeheim

Darauf ist niemand vorbereitet. Auch eine heute 40 Jahre alte Stuttgarterin warf das Schicksal aus der Bahn. Nach einem Schlaganfall landete sie als 31-Jährige in einem Seniorenpflegeheim. Sechs Jahre verstrichen, bis sie 2017 eine betreute Wohnung fand. Die Rollstuhlfahrerin hatte keine Familie, die sich für sie einsetzte. Sonst wäre sie vielleicht in die stationäre junge Pflege gekommen – mit Betonung auf vielleicht. Auch dort übersteigt der Bedarf das Angebot.

Sie würden ohne Probleme das Doppelte an Plätzen voll bekommen, berichtet zumindest Andreas Weber, der Einrichtungsleiter der Jungen Pflege im Mehrgenerationenhaus Heslach des Eigenbetriebs Leben und Wohnen. Zwei bis drei Stockwerke könnten sie vom Bedarf her oben draufsetzen – doch das ginge baurechtlich nicht. Eine Erweiterung um ambulante Plätze, angedockt ans „Mutterhaus“, scheiterte wiederum bisher an der fehlenden Liegenschaft. So bleibt es vorerst bei 50 stationären Plätzen – auch so ist es landesweit die größte junge Pflege. Andere Pflegeheime haben meist nur eingestreute Plätze dieser Art.

Giuseppe fühlt sich in der Einrichtung „zu Hause“

„Die Nachfrage ist gewaltig“, sagt Weber, der ebenfalls mit „großer Verzweiflung“ konfrontiert ist. Vor allem meldeten sich Eltern, die ihr sehr krankes Kind „bis zur Erschöpfung“ über viele Jahr gepflegt hätten – viele der Bewohner haben Multiple Sklerose (MS). Die Eltern plage oftmals ein schlechtes Gewissen, den Sohn oder die Tochter ins Pflegeheim zu geben.

Giuseppe lebt seit sieben Jahren in der Einrichtung im Stuttgarter Süden und fühlt sich „zu Hause“. Der 45 Jahre alte MS-Patient duzt die Pflegekräfte, sie duzen ihn. Er ist Frühaufsteher, dürfte aber auch ausschlafen – den Rhythmus geben die Bewohner vor. „Hier läuft alles ganz locker“, sagt Giuseppe, der nur mit Vornamen in der Zeitung stehen will. Er weiß aus eigener Erfahrung, dass es auch anders sein kann. Denn auch er kam über einen Umweg nach Heslach. Als seine Mutter die Pflege des Sohnes nicht mehr leisten konnte, gab es in der jungen Pflege keinen freien Platz. Er musste in die Kurzzeitpflege, war in dem Heim mit Abstand der Jüngste – und „sehr unglücklich“. Auch sein Sozialarbeiter machte sich Sorgen um ihn – und rief regelmäßig in Heslach an. Endlich gab es einen freien Platz. „Ich habe Glück gehabt“, sagt Giuseppe.

Auch Mark Müller steht in Heslach auf der Warteliste. Immerhin – vor wenigen Tagen konnte er umziehen. Ein Seniorenpflegeheim in Stuttgart, das auch junge Pflege anbietet, sagte zu. Allerdings gibt es neben dem 23-Jährigen nur einen 35 Jahre alten Bewohner in dem Haus. Langfristig sei das daher keine Lösung, sagt sein Bruder. „Aber es war die einzige Option.“

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