Die aktuelle deutsche Sängergeneration hat Joris mit geprägt. Zum Auftakt seiner Deutschlandtour zeigt er sich im Wizemann ehrlich und sensibel. Sein Publikum trift er ins Herz. Aber sollte er vielleicht ein klein bisschen weniger bieten? Weniger Harmonie nämlich?

Stuttgart - Mit dankbarem Lächeln steht Joris am Freitagabend nach rund einhundert Minuten vor den 1300 Besuchern im ausverkauften Wizemann. Langsam wird es Zeit zu geh’n – und für ein finales Dankeschön. Das ein oder andere habe noch nicht ganz gepasst beim Auftakt seiner Deutschlandtournee (dem tags darauf ein zweiter Auftritt an selber Stelle folgte), sagt der Singer-Songwriter. Aber wie das Stuttgarter Publikum ihn durch diesen Auftritt getragen habe, das sei schon sehr bewegend.

 

Und es stimmt ja auch: Nicht jeder Übergang, jeder Einsatz hat bei der Premiere punktgenau gesessen. Doch seine Fans haben Joris einfach schwer ins Herz geschlossen, seit er 2015 mit dem Album „Hoffnungslos hoffnungsvoll“ und dem Hit „Herz über Kopf“ die Hitparaden stürmte. Genau diesen Song – das beste gibt’s ja meistens ganz zum Schluss – spielt Joris als letzten Titel eines Konzertes, das ihn als vielseitigen Künstler zeigt, dem das Musikmachen, der Kontakt zu seinen Fans eine echte Herzensangelegenheit ist.

Opfer der Gefallsucht

Zwischen Gitarre und Klavier wechselt Joris im Wizemann hin und her, Schlagzeugspielen kann er überdies, und den Trend zu einer ausdrucksstarken Singstimme jenseits eines lehrbuchhaft domestizierten Timbres hat er für die aktuelle deutsche Sängergeneration erfolgreich mitbegründet. Allerdings zählt auch er zu den Opfern jener inflationären Gefallsucht, die ungebrochen in der deutschen Musikszene grassiert.

Liebevoll hegt und pflegt diese Künstlerschar ihr Publikum, schwört sie in permanenter Interaktion auf einen familiär-freundschaftlichen Basisakkord und gegenseitige Zuneigung ein. Ungeachtet der damit verbundenen Geschäftstüchtigkeit agiert Joris fraglos ehrlich und kein bisschen berechnend. Aber er verbaut sich gleichwohl den Weg hin zu einer expliziteren Gangart jenseits eines hitparadentauglichen und radiokompatiblen Schönklangs.

Feuerwesen und Revolution

Ob dieses Zurückzucken vor der eigenen Courage an seinen diversen Semestern an der Popakademie Baden-Württemberg liegt, die den Nachwuchs in Lehrgängen wie „Popmusikdesign“ erfolgreich, aber gleichmacherisch auf die große Karriere trimmt? Oder verhindert der Trend zur allgemeinen „Like-Kultur“, zur algorithmengenerierten Rudelbildung von Gleichgesinnten, dass derzeit kaum ein junger heimischer Künstler dieses Genres ein wirklich eigenes Profil herausbildet?

Auch Joris’ Lieder umkreisen romantisierend die diffusen Befindlichkeiten der Netzwerke-Generation, erzählen von Leuchtfeuern, Feuerwesen und Schmetterlingsflügeln; manchmal gar von der Sehnsucht nach ein bisschen Revolution. Aber kein bisschen revolutionär oder quer zum gesellschaftlichen Mainstream klingt das alles im Wizemann; völlig rockfern zieht dieser Sound seine Kreise, obwohl die vierköpfige Band mit Keyboarder Constantin Krieg als auffälligstem Akteur und musikalischem Direktor durchaus Druck macht. Doch die kratzigsten Töne steuert in diesem selbst in temporeicheren Gefilden konsequent freundlichen Popkontext Joris’ markante Stimme bei.

Großes Gefühlskino

Ansonsten dominieren sehnsuchtsvolle Mitsingmelodien voll ausgiebig zerdehnter Vokale, gefällige Gitarren-Tasten-Dialoge mit einem Hauch von Coldplay und eine ziemlich vorhersehbare Showdramaturgie. Den obligatorischen Soloauftritt auf einem kleinen Podium in der Hallenmitte gibt es ebenso wie ein paar nette, selbstverständlich sorgsam ausgedachte Showelemente; etwa ein Akustikset auf Weingläsern, Schreibmaschine und Harmonium. Fast das komplette Repertoire des neuen Albums „Schrei es raus“ und die wichtigsten Songs von „Hoffnungslos hoffnungsvoll“ gibt es so als großes, explizit publikumszugewandtes und bisweilen sehr selbstergriffenes Gefühlskino: inszeniert mit einer für Wizemann-Verhältnisse opulenten, fast überdimensionierten Lightshow.

Weil wirkliche Reizpunkte aber ausbleiben, gerät dieser Auftritt voller Optimismus und Nachdenklichkeit ebenmäßiger als er zu sein vorgibt „Ein Kaleidoskop mit tausend Farben“ sei man, singt Joris in „Das sind wir“ von seiner Generation, „ein Mosaik aus tausend Teilen“. Doch hinter der bunten Fassade bleibt Joris vorerst nur einer unter vielen sympathischen, aber berechenbaren Befindlichkeitspoeten – und noch unter seinen potenziellen Möglichkeiten. Würde er ein paar Grundsatzregeln aus den Lehrbüchern der Popakademie über Bord werfen, sich weniger auf maximale Publikumsanerkennung fixieren und etwas mehr Mut zum Risiko zeigen: Das nächste Wiederhören mit ihm könnte anregender ausfallen.