Die größte deutsche Bevölkerungsstudie läuft an. Forscher wollen 200 000 Menschen über Jahrzehnte medizinisch begleiten, um die Entstehung von Krankheiten zu verfolgen. So wollen sie besser verstehen, welche Risikofaktoren zu Volkskrankheiten beitragen.

Stuttgart - Es soll die größte Studie über Volkskrankheiten werden, und das über einen Zeitraum von bis zu dreißig Jahren hinweg: 200 000 Deutsche werden für ein Mammutprojekt, die sogenannte Nationale Kohorte, Daten über ihren Gesundheitszustand beisteuern – so sieht es das Studiendesign vor. Seit einigen Tagen werden deutschlandweit per Zufallsprinzip Probanden über die Einwohnermeldeämter angeschrieben, die zwischen 20 und 69 Jahre alt sind und in einer der Städte mit einem Forschungszentrum wohnen. Ob künftige Probanden eingeladen werden, hat nichts mit ihrem gesundheitlichen Zustand zu tun; eine Bewerbung aus freien Stücken als Teilnehmer ist auch nicht möglich. Weshalb aber braucht Deutschland eine Nationale Kohorte?

 

Die Wissenschaftler wollen ermitteln, welche Risikofaktoren zu häufigen chronischen Erkrankungen wie Herz-Kreislauf-Leiden, Krebs, Atemwegserkrankungen und Diabetes beitragen. Die Studie soll zudem dabei helfen, neue Wege der Früherkennung und frühzeitlichen Behandlungen zu finden. Dafür werden moderne medizinische Methoden eingesetzt.

Insgesamt gibt es 18 Forschungszentren über ganz Deutschland verteilt. In Berlin sind es beispielsweise drei Einrichtungen, in Baden-Württemberg zwei: Freiburg und Mannheim. Um als Studienzentrum ausgewiesen zu werden, mussten die Einrichtungen über spezielle Ausrüstung und Kernkompetenzen verfügen. In Freiburg und Mannheim war das der Fall. Wer in einer dieser beiden Städte wohnt, könnte demnächst also Post bekommen. Die Teilnahme an der Studie ist freiwillig. Die Probanden erhalten eine Aufwandsentschädigung von zehn Euro sowie Verpflegung im Studienzentrum am Tag der Untersuchungen. Im monetären Sinne lukrativ ist das nicht.

Die Forscher versichern: Daten werden anonym analysiert

Rudolf Kaaks, wissenschaftlicher Vorstand des Vereins Nationale Kohorte und zudem wissenschaftlicher Leiter des Studienzentrums in Mannheim, betont: „Alle Probanden tragen zum Allgemeinwohl bei, weil sie dem wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn dienen. Man kann das als Geschenk an die Gesellschaft sehen.“ Zudem erhalten die Teilnehmer die Ergebnisse einiger Basisuntersuchungen per Post. „Und wir informieren die Probanden regelmäßig über einen Newsletter, welche Erkenntnisse wir aus der Studie gewonnen haben.“

Der Ablauf der Studie ist akribisch geplant. Zunächst durchlaufen alle Probanden eine Basisuntersuchung, die nach circa vier Jahren für alle abgeschlossen sein soll. Innerhalb dieser Frist werden alle per Zufallsprinzip ausgewählten Probanden ins Forschungszentrum der jeweiligen Bundesländer eingeladen. Dort füllen sie Fragebögen aus, der Blutdruck wird gemessen, die Hör- und Sehfähigkeit sowie Lungenfunktion und kardiovaskuläre Funktionen werden getestet, und Blut-, Speichel-, Stuhl- und Urinproben werden untersucht. Außerdem absolviert jeder Teilnehmer einen Muskel- und einen allgemeinen Fitnesstest. Anschließend sollen die Probanden Fragen zu ihrem Lebensstil, zur medizinischen Vorgeschichte und vielen Risikofaktoren beantworten. Ein Messgerät nehmen die Probanden dann mit nach Hause: Es zeichnet vier Tage lang alle Bewegungsaktivitäten auf.

Eine komplette Untersuchung im Studienzentrum wird etwa zweieinhalb Stunden dauern und vier bis fünf Jahre später noch einmal wiederholt. Eine Vielzahl der 200 000 Menschen wollen die Forscher so über Jahre im Blick behalten. Etwa 30 000 von ihnen werden zusätzlich mit bildgebenden Verfahren, dem Magnetresonanztomografen, durchleuchtet. „Anhand aller erhobenen Daten wollen wir Einflüsse der Lebensstilfaktoren, der genetischen Faktoren und der Umweltfaktoren sowie des allgemeinen medizinischen Zustandes auf das Risiko, später chronische Erkrankungen zu erleiden, ermitteln“, erklärt Kaaks. Deshalb werden die Probanden alle zwei bis drei Jahre erneut Fragebögen ausfüllen: Haben sich die Lebensumstände verändert? Sind Erkrankungen aufgetreten? Gab es eine Schwangerschaft, eine Operation, hat die Menopause eingesetzt? Wurden neue Medikamente verschrieben oder sind andere Lebensumstände – wie etwa der Ruhestand – eingetreten?

Erste Ergebnisse nach drei bis fünf Jahren

Im Laufe der Jahre werden Kaaks zufolge statistisch betrachtet bis zu 10 000 Menschen an einer von vielen möglichen ernsthaften Erkrankungen leiden. Später werden die Forscher dann auf die vorher gesammelten Daten, Blut- und Urinproben zurückgreifen und gesund gebliebene und erkrankte Studienteilnehmer zu vergleichen. Die Daten der Teilnehmer werden, versichert Kaaks, absolut vertraulich behandelt. Alle Untersuchungsbefunde und Daten würden getrennt von den personenidentifizierenden Daten aufbewahrt. Für weitere Datenerhebungen können die Teilnehmer nur über eine Treuhandstelle erneut kontaktiert werden. Die Forscher wissen also nicht, welcher Name zu welchen Befunden gehört.

Bei den Untersuchungen in den Studienzentren kann es auch passieren, dass Krankheiten oder Unregelmäßigkeiten entdeckt werden, von denen der Proband noch nichts weiß. In einer Liste, die die Studienplaner erstellt haben, ist daher klar definiert, ob und wann die Probanden über sich anbahnende oder bereits sichtbare Erkrankungen unterrichtet werden müssen. Handelt es sich um ernste Befunde, die auf die Notwendigkeit einer unmittelbaren Behandlung hinweisen, werden die Teilnehmer informiert – mit der Bitte, dies weiter abklären zu lassen.

Nach etwa drei bis fünf Jahren sollen erste Aussagen über den Datensatz möglich sein – als beschreibende Momentaufnahme über den Gesundheitszustand der Deutschen. Bis zu den ersten aussagekräftigen Auswertungen mit Bezug auf neu diagnostizierte chronische Erkrankungen wird es wohl mindestens fünf bis acht Jahre dauern. „Zu diesem Zeitpunkt werden wir sehen können, ob beispielsweise bestimmte Faktoren wie Bewegung oder Gewicht mit dem Auftreten einer bestimmten Erkrankung zusammenhängen“, sagt Kaaks. Die Kohortenstudie ermittelt so zuerst den Ist-Zustand der Bevölkerung und beobachtet anschließend, wer erkrankt oder wer gesund bleibt und analysiert die Einflussfaktoren. Gesundheitssurveys, wie sie das Robert-Koch-Institut durchführt, sind zwar auch repräsentativ, aber eben nur für den Moment: Sie geben nur den aktuellen Ist-Zustand der Bevölkerung wieder und lassen keine Rückschlüsse darauf zu, wie sich das Befinden der Probanden verändert.

Auch wenn es vereinzelt Kritik aufgrund der „einseitig biomedizinischen Ausrichtung“ im Vorfeld gab, steht Kaaks voll und ganz hinter dem Projekt. „Bei einem so großen Vorhaben kommen sehr viele Interessen zusammen, da muss man Kompromisse finden“, sagt er. Die Teilnehmer könne man schließlich nicht tagelang verpflichten, sich in den Studienzentren aufzuhalten. Seit fünf Jahren bereitet Rudolf Kaaks zusammen mit rund 70 weiteren Forschern in ganz Deutschland die Langzeitstudie vor. Anfang Oktober wird das Projekt in Mannheim und Freiburg in vollem Gange sein. Kaaks freut sich darauf. „Wir hoffen, dass sich die angeschriebenen Personen alle an der Erhebung beteiligen.“