Die erfolgreiche Elektronikmesse CES ist nur ein Beispiel dafür, wie sich die Spielerstadt immer wieder neu zu erfinden weiß.

Stadtentwicklung & Infrastruktur: Andreas Geldner (age)

Stuttgart - Clever ist die Idee mit der großen Messe direkt nach Neujahr ja schon. Die Weihnachtstouristen sind weg, und Medien wie Öffentlichkeit hungern nach Nachrichten. Das Wetter ist für die Maßstäbe von Las Vegas das schlechteste im Jahr. Auch während der diesjährigen Consumer Electronics Show (CES) hat es – wider das Wüsten-Klischee – heftig geregnet. Doch im Gegensatz zu den Touristen stört dies die durch Kitscharchitektur und vorbei an Spielautomaten gelotsten Fachbesucher weniger.

 

Ein wenig Chuzpe gehört auch dazu, wenn eine Stadt weitab jeder automobilen Tradition seit etwa einem halben Jahrzehnt systematisch der wenige Tage später im eisigen Detroit beginnenden, traditionellen ersten Automesse des Jahres die Show zu stehlen versucht. Seit dieser Zeit lockt Las Vegas mit den Themen Vernetzung und autonomes Fahren die Autohersteller an. Und die nutzen die Gelegenheit, zum Jahresstart Schlagzeilen zu machen.

Große Risiken – manchmal grandiose Pleiten. Mit dieser Casino-Denkweise ist Las Vegas gar nicht so weit weg vom Charakter der sich zurzeit stürmisch entwickelnden Digitalwelt. Auch die Kunstrealität der modernen Elektronik passt zur Stadt. „Es ist wirklich sehr, sehr leicht, hier der Realität zu entfliehen“, sagt Caitlin Lilly, eine Reporterin der örtlichen Zeitung „Las Vegas Review-Journal“. Die Unterhaltungsindustrie in der Stadt hatte immer einen Riecher für die neuesten Trends bei den elektronischen Kunstwelten: Immer perfektere virtuelle Erlebnisse, ob Autorennen oder Flugsimulationen gehören zum Unterhaltungsprogramm. Die einzige Branche, die sich während der CES dem dort propagierten Trend zum virtuellen Erlebnis entzog, waren die Bordellbetreiber. Dieses anrüchige wirtschaftliche Standbein der Stadt profitiert während der Messe von einem Nachfrageschub.

Als Spielerstadt groß geworden

Eigentlich dürfte es eine Stadt wie Las Vegas gar nicht geben. Für Kritiker – und dazu gehören auch viele ernsthafte Ökonomen – ist der erst vor 110 Jahren aus dem Wüstenboden gestampfte Sündenpfuhl das Menetekel für die schlimmsten Exzesse der USA. Anstatt ins Schulsystem zu investieren, senkt man hier lieber die Steuern. Als Spielerstadt groß geworden, weil Casinos nach dem Zweiten Weltkrieg zur Geldwäsche der Mafia taugten, wurde die Stadt anschließend zum Tummelplatz reicher und egomanischer Investoren. Zu denen muss man heute unbedingt auch den Immobilienmagnaten und Möchtegern-Präsidentschaftskandidaten Donald Trump zählen, dessen vollständig mit goldglänzenden Scheiben verkleidetes Hotelhochhaus in der Glitzerstadt nicht zu übersehen ist.

Las Vegas war in der Finanzkrise eines der gravierendsten Beispiele für die Krise des US-Immobilienmarkts. Wie in kaum einer anderen Region war hier mit Häusern gezockt, geschachert und spekuliert worden. Entsprechend heftig und die Mittelschicht erschütternd war auch der Crash. Doch europäisch-solide Maßstäbe haben für die Ökonomie der Stadt nie gegolten. Selbst für die USA ist die Stadt extrem. Für puritanische Lektionen taugt sie nicht. Moral hin oder her: die Stadt ist besser durch die Krise gekommen als andere. Sie steht für ein sehr amerikanisches Modell, das eine erstaunliche Regenerationskraft zu haben scheint. Die Touristen hielten der Kunstkulisse durch die Rezession hinweg die Treue. Las Vegas blieb auch eine der wichtigsten Konferenz- und Messestädte der Vereinigten Staaten.

Die chinesischen Investoren sind der Stadt treu geblieben

„Las Vegas is back“, das ist ein Satz, den man hier überall hört. Zurück ist beispielsweise Joel Miller, der in der Immobilienkrise mit seiner Frau nach Florida zog und inzwischen zurückgekehrt ist, weil er hier als Fahrer für den in der Stadt omnipräsenten Fahrdienst Uber sein Auskommen gefunden hat. „Man spürt, dass es besser wird“, sagt er.

Auch seinen Kollegen Patrice Abegnenou hat es vor fünf Jahren, noch ganz im Schatten der Krise, aus New York hierher verschlagen. Hier kann er seine Ausbildung als Buchhalter machen und ebenfalls als Taxifahrer genügend Geld nebenher verdienen, um seinen Lebensunterhalt zu finanzieren. „Wissen Sie, das Wetter im Sommer in New York ist furchtbar: viel zu heiß, feucht und schwül.“ In Nevada sei die Wüstenluft auszuhalten. Abegnenou muss es wissen. Er stammt aus Togo.

Die gigantischen Baugruben nahe dem Las Vegas Strip, welche die Rezession hinterließ, beginnen sich mit Leben zu füllen. Im Schatten des so provozierend golden auftrumpfenden Trump-Turms hat ein australischer Investor damit begonnen, ein neues Casino zu bauen. Daneben buddeln Chinesen – die als Immobilieninvestoren für Luxusapartments der Stadt übrigens auch in der Krise die Stange hielten. Ein nagelneues Stadion soll mehr Sportspektakel in die Stadt holen. Die gerade passenderweise vom Casino-Magnaten und Trump-Freund Sheldon Adelson in einem umstrittenen Deal aufgekaufte Zeitung „Las Vegas Review-Journal“ sieht 2016 als Jahr des Aufbruchs. Sie spricht von „großen Dingen und langfristigen Verbesserungen“. Das Wirtschaftsportal Vegas Inc. beginnt den Jahresausblick mit dem blumigen Satz: „Eine große Welle des Wachstums wird 2016 über dem Las Vegas Boulevard zusammenschlagen.“

Das Geld sitzt locker

Las Vegas blieb in der Tat durch alle Krisen hinweg das Schicksal anderer Städte in den USA erspart, die den Sprung in die moderne Dienstleistungsgesellschaft nicht schafften. In der Stadt wusste man immer, dass diese auch eine Spaßgesellschaft ist und dort das Geld locker sitzt. Im Vergleich etwa zur der von wachsenden sozialen Gegensätzen und für die Mittelschicht unbezahlbaren Hauspreisen gebeutelten Hightech-Metropole San Francisco wirkt Las Vegas heute fast wie ein Hort der Vernunft. Laut dem „Wall Street Journal“ liegen in der Spielerstadt die Immobilienpreise nun im langjährigen Trend. Las Vegas ist bezahlbar. Gezockt wird im Casino. „Zwanzig Dollar bringen dich hier weiter, als du denkst“, sagt die Journalistin Lilly.

Während andere US-Städte, die unter vernachlässigten alten Stadtzentren leiden, sich mit puppenstubenartig renovierten, historischen Gebäuden herausputzen, peppt Las Vegas die Promeniermeile im alten Zentrum lieber anders auf. Ein keineswegs regendichtes, dafür umso spektakuläreres Dach über der Fußgängerzone wurde jüngst für Lightshows über und über mit LED-Leuchten drapiert. Darunter kann man sich auf einer Zip-Line, einer Miniseilbahn, über die Köpfe der Flaneure hinwegkatapultieren lassen. Am Eingang wirbt der „Heart Attack Grill“ („Herzinfarktgrill“) damit, dass jeder Kunde mit einem Gewicht von mehr als 159 Kilogramm die Mega-Hamburger gratis verspeisen darf.

Die bisher vor allem über die CES hergestellte Verbindung zur zukunftsträchtigen Digitalbranche dürfte noch enger werden. Las Vegas gilt als möglicher nächster Fluchtort weg vom teuren Kalifornien. Bei Start-ups hat sich herumgesprochen, dass Las Vegas ein guter Ort für verrückte Ideen ist. Die Mieten sind niedrig. Eine Einkommensteuer gab es noch nie. Auch alle anderen Steuern sind minimal.

In einem Vorort entsteht eine Batteriefabrik für E-Autos

Die Stadt hat mit Tony Hsieh, dem Gründer des inzwischen an Amazon verkauften Schuhversenders Zappos – der das Vorbild für den deutschen Online-Versender Zalando war – einen Entrepreneur, der an das Potenzial von Las Vegas als zukünftigem Innovationsstandort glaubt. „Die Idee stammt aus einer Nacht mit vielen Drinks“, sagte der 42-Jährige einmal freimütig. Noch liegt die in einem klotzigen Neubaublock in der Nähe des alten Stadtzentrums untergebrachte Unternehmenszentrale etwas einsam. Aber gleich gegenüber liegt das bei Touristen populäre, erst 2012 eröffnete Gangstermuseum.

Und immerhin gilt Zappos wegen seiner lockeren und entspannten Unternehmenskultur als einer der beliebtesten Arbeitgeber in den USA – und bietet damit einen spannungsreichen Kontrast zu dem deutlich weniger spaßbehafteten Eigentümer Amazon. „Glück liefern“, so lautet der von Hsieh geprägte Slogan. Unterstützt von 350 Millionen Dollar aus Hsiehs Privatvermögen und einem ebenfalls millionenschweren Kapitalfonds siedeln sich in der Gegend immer mehr Gründer an.

Der Zappos-Gründer hat mit seinem Geld auch dafür gesorgt, dass ein paar Meter von der benachbarten Freemont Street mit ihren Casinos und einem ziemlich verrucht wirkenden Gentlemen’s Club entfernt, ein familienfreundlicher Freizeitpark entstanden ist. Der heißt ganz schlicht „Container-Village“ also Containerdorf. Hier hat man, anstatt Gebäude zu errichten, Dutzende von Containern übereinander- und nebeneinandergestapelt. „Die Menschen werden hierherkommen, allein, um sich so etwas anzuschauen“, sagte Hsieh in einem Interview. Die Sache scheint etabliert: Inzwischen befindet sich dort auch eine von den für Las Vegas typischen „Kapellen“ für die Expressheirat.

Parallel zur Start-up-Strategie fördert der Bundesstaat Nevada mit 335 Millionen Dollar den Bau einer Batteriefabrik in einem Vorort von Las Vegas, um dem Elektroauto-Pionier Tesla Konkurrenz zu machen. Die Stadt setzte sich in harter Konkurrenz gegen Bewerber aus Georgia und Kalifornien durch. Und natürlich ließ man es sich nicht nehmen, die Präsentation des dazugehörigen, Faraday genannten Elektromobils während der CES zum Spektakel à la Las Vegas zu machen. Vorher tauchten seltsamerweise Gerüchte auf, dass sogar Apple die Finger im Spiel haben könnte.

Die nüchterne, internationale Presse verriss das Vehikel dann gleich als bombastischen Show-Akt. Wie Batmans Lieblingsauto sehe der pechschwarze Bolide aus, hieß es. „Statt klarer Fakten gab es jede Menge Blabla. Die Amerikaner redeten mehr über Missionen als über Modelle und wollten lieber als Weltverbesserer gelten denn als Automobilhersteller“, moserte „Spiegel-Online“. Doch eine Batterieproduktion sexy machen? Das geht nun wirklich nicht ohne Batmobil.