Brüssel - Rekordbußgelder von knapp drei Milliarden Euro hatte EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager im Sommer 2016 gegen das „Lasterkartell“ verhängt. So gut wie alle europäischen Hersteller waren betroffen. Ihnen war nachgewiesen worden, dass sie die Herstellerpreise ab Werk über einen Zeitraum von 14 Jahren untereinander ausgetauscht hatten. MAN war damals Kronzeuge und kam straffrei davon, Daimler musste einen Löwenanteil zahlen, Renault, Volvo, DAF und Iveco – sie alle wurden zur Kasse gebeten.
Heute, fast fünf Jahre später, läuft die zivilrechtliche Auseinandersetzung der Käufer der Lastwagen um Schadenersatz auf vollen Touren. Quer durch die Republik sind an den Gerichten Prozesse anhängig. Ein einheitliches Bild gibt es nicht. Mal gewannen bisher die Käufer, mal die Hersteller. Rechtswirksame Urteile gibt es noch nicht. Während anfangs Goldgräberstimmung herrschte, Anwälte je Erwerbsvorgang Entschädigungen von zehn Prozent versprachen, herrscht mittlerweile Frust bei den Betroffenen. Spediteure, Unternehmen mit einem Lkw-Fuhrpark, die Bundeswehr sowie Flughäfen: Sie alle haben Lastwagen gekauft in den Jahren des Kartells.
Die Kläger müssen den Schaden deutlich machen
Nach Informationen unserer Zeitung hat noch kein einziger Lastwagenkäufer in Deutschland eine Entschädigung bekommen. Auch in der EU sieht es nicht viel besser aus: Nur in Spanien ist in einigen wenigen Fällen Geld geflossen, hört man. In der ersten Runde vor Gericht haben etliche Kläger zwar dem „Grunde nach“ Recht bekommen. Sie müssen nun aber ein zweites Verfahren führen, in dem sie den entstandenen Schaden deutlich machen müssen. Dabei kann auch passieren, dass die Richter den Schadenersatzanspruch wieder ganz kassieren. Immer häufiger hört man inzwischen von vollständigen Klageabweisungen. Bei einem Hersteller haben sich so Fälle in einer gehobenen fünfstelligen Stückzahl erledigt. Auch von vollständigen Klagerücknahmen gegen einzelne Hersteller ist die Rede.
Scheitern Sammelklagen?
Bei den gerichtlichen Auseinandersetzungen zeichnen sich zwei Entwicklungen ab. Zum einen haben die Sammelklagen einen Dämpfer bekommen. Im Februar 2020 erklärte das Münchener Landgericht die Abtretung der Klagerechte der Betroffenen bei 85 000 Erwerbsvorgängen an einen professionellen Prozessfinanzierer und eine namhafte US-Rechtanwaltsfirma, die sich auf Sammelklagen spezialisiert hat, für unzulässig. Irgendwann geht es dazu in Berufung. Es fällt auf, dass die Kläger bei den anderen beiden anhängigen Sammelklagen über 100 000 Laster sowie eine zweite fünfstellige Zahl das Tempo herausnehmen. In München haben die Kläger etwa – offenbar recht willkürlich – einen Befangenheitsantrag gegen eine Richterin gestellt und damit einen Termin platzen lassen. Kann es sein, dass die Sammelkläger nicht mehr sicher sind, ob die Abtretung der Klagerechte mit deutschem Recht vereinbar ist?
Ein erstes Urteil in letzter Instanz besteht bereits
Zum anderen gab es ein erstes Urteil zum Lasterkartell vom Bundesgerichtshof. Damit gibt es ein erstes Urteil in letzter Instanz. Ein in Stuttgart anhängiger Fall muss nun neu verhandelt werden. Interessanter ist: Das 40 Seiten umfassende Urteil der Karlsruher Richter hat über den Einzelfall hinaus Gewicht. Es gilt als „Segelanweisung“ für all die juristischen Auseinandersetzungen, die derzeit an deutschen Gerichten anhängig sind. Der Spruch hat es in sich, können doch beide Seiten Honig daraus saugen.
Mehr als bloßer Austausch von Informationen
Was den Klägern gefällt: Die BGH-Richter teilen die Auffassung der EU-Kommission, dass es sich durchaus um ein klassisches Kartell gehandelt habe. Anders als die Hersteller behaupten, habe es deutlich mehr Absprachen jenseits vom bloßen Austausch von Informationen zum Bruttolistenpreis und zu Abgasnormen gegeben. „Das ist sehr schöner Rückenwind für unsere Klagen“, hört man bei einem Rechtsanwalt der Klägerseite. Was den Herstellern gefällt: Der BGH pocht darauf, dass es keine pauschalen Schadenersatzleistungen geben darf. Vielmehr müsse bei jedem Kaufvorgang nachgewiesen werden, ob ein Schaden entstanden ist und wie hoch er war.
Auf Herstellerseite wird diese Klarstellung sehr begrüßt. Sie argumentieren nämlich, dass der Austausch von Preislisten nicht gleichbedeutend sei mit höheren Endverbraucherpreisen. Verkaufsgespräche bei Lastern liefen grundsätzlich anders als bei Pkws. Je nach Aufbau, Motorisierung und Extras gebe es zahllose Möglichkeiten, einen Neulaster zusammenzustellen.
Verkaufsgespräche müssen dokumentiert werden
Je nach Wirtschaftslage, Stückzahl und Verhandlungsgeschick gebe es massive Nachlässe. Nicht selten stiegen die Bruttolistenpreise, aber die Nettopreise sänken. Jetzt kommt es also darauf an, ob es den Käufern gelingt, bis zu 20 Jahre zurückliegende Verkaufsgespräche so lückenlos und überzeugend zu dokumentieren, dass das Gericht eine Übervorteilung erkennen kann. Welche Seite dabei die besseren Karten hat, wird sich bald zeigen. Die nächsten Prozesse sind bereits terminiert.