Eine Chemotherapie brachte ihr Schmerzen und raubte ihre Locken. Nun befindet sich Lea auf dem Weg zurück in eine normale Kindheit.

Familie/Bildung/Soziales: Viola Volland (vv)

Stuttgart/Günzburg - In Venedig tanzen sie. Legomännchen drehen sich auf dem Piazza San Marco im Takt zu italienischer Schmalzmusik. Lea betrachtet die Figuren, die Seufzerbrücke, die Gondeln, die auf den Kanälen schaukeln. Es liegt kein Wiedererkennen in ihrem Blick. Die Neunjährige war schon mal im Legoland im bayerischen Günzburg, aber das ist, wie sie sagt, „lange her“. Das war, bevor sie ins Krankenhaus musste. Ihre Schwestern, die heute siebenjährigen Zwillinge Mia und Mara saßen damals noch im Kinderwagen. Nur an eine Sache erinnert sich Lea noch: wie sie mit ihrem Onkel Wildwasserbahn gefahren ist. „Er hat mich unter einen Ganzkörperföhn gestellt, weil ich so nass war“, erzählt sie und lächelt schüchtern. Und was will sie heute, an diesem wunderschönen Frühsommertag, erleben? „Wildwasserbahnfahren“, antwortet sie leise.

 

Lea ist eines von zwölf krebskranken Kindern zwischen vier und 13 Jahren, die der Verein Internationale Medizinische Hilfe für einen Tag mit den Familien ins Legoland eingeladen hat. Sie sollen in dem Günzburger Freizeitpark nach der schweren Zeit, die hinter ihnen liegt, vor allem eines haben: Spaß. Alle Kinder aus der Gruppe haben die Chemotherapie im Stuttgarter Olgahospital abgeschlossen. Während der Behandlung wäre solch eine Fahrt nicht möglich – „wegen der Infektionsgefahr ginge das nicht, große Menschenansammlungen sind tabu“, sagt der Sozialpädagoge Ralf Braungart, der im Olgäle arbeitet und sich um die Kinder kümmert, die ohne Eltern mitgefahren sind. Die Familien ziehen auf eigene Faust los und stürzen sich ins Getümmel. „Die Mädchen haben sich seit Tagen aufs Legoland gefreut“, sagt Leas Mutter, Antje Kühner. Sie hält Maras Hand. Oma Monika Friese, die in Vertretung ihres Schwiegersohnes Harald gekommen ist, steht hinter Mia und Lea. Die Mädchen hocken vor einem Miniaturbauernhof und drücken bunte Knöpfe. Legokühe blöken im Stall.

Etwas mehr als vier Jahre ist es her, dass Antje Kühner hoffte, ihr Leben würde wieder leichter werden. Mara hat das Ulrich-Turner-Syndrom. Sie ist mit nur einem X-Chromosom geboren worden und musste oft ins Krankenhaus. Dann kamen die Zwillinge in den Kindergarten, und Antje Kühner dachte, jetzt wäre sie mal dran: endlich etwas ausruhen. Dann bekam Lea Krebs.

Die Beine sind schwächer als früher

Lea geht voraus zu den Fahrgeschäften. Die Neunjährige tritt nicht so selbstbewusst auf wie ihre jüngeren Schwestern, ihr Gang wirkt unsicher. Die dünnen langen Beine gehorchen ihr nicht mehr so wie früher: Die Chemotherapie hat die Nervenbahnen angegriffen. Wenn sie in der Schule Fangen spielen, wird Lea immer als Erste gefangen. Aber sie kann gut schwimmen. Bald beginnt sie mit dem Bronzeabzeichen.

„Sie wächst“, dachte Antje Kühner zuerst, als ihre Tochter im Frühjahr 2008 plötzlich über starke Kopf- und Beinschmerzen klagte. Lea, die Älteste, war schließlich immer kerngesund gewesen. „Das Kind wächst“, sagten auch die Großmütter. Doch die Schmerzen gingen nicht weg. Dazu kamen Fieberschübe. Es wird ein Virus sein, dachte Antje Kühner. Sie flog für eine Woche nach Fuerteventura. Als sie wiederkam, wollte Lea nicht mit zum Flughafen, um ihre Mama abzuholen. Harald Kühner glaubte nach der Woche nicht mehr, dass seine Tochter „nur wächst“. Er hatte sie noch nie so blass gesehen.

Die Kinderärztin schaute besorgt. Die Leukozyten seien erhöht. „Was kann es sein?“, fragte Antje Kühner. „Ein starker Infekt – oder etwas anderes“, antwortete die Ärztin. Sie solle noch am gleichen Tag ins Stuttgarter Olgahospital gehen. Der Freizeitpark ist kurz vorm Überlaufen. Das Fahrgeschäft Flying Ninajgo durchpflügt den Himmel, die Einzelgondeln mit Fledermausflügeln sind voll besetzt. Draußen stehen Familien Schlange. Beim Legolandexpress Deutschland ist es das Gleiche. Dreißig Minuten Wartezeit warnt ein Schild. Die Kühners schreckt das nicht ab. Es ist heiß. Rund hundert Leute stehen vor Lea, aber sie quengelt nicht. Sie hat sich auch vorhin nicht beschwert, als der Bus auf der Hinfahrt so lange auf der Autobahn im Stau steckte. Sie kann warten. Sie hat schon viel länger gewartet.

Lea benötigt eine Hochdosistherapie

Akute Lymphatische Leukämie, kurz ALL – Harald Kühner hat die Diagnose „wie eine Bombe getroffen“. Antje Kühner hat irgendwie funktioniert. Es würde schon nicht so schlimm werden, hat sie gedacht. Sie hat Lea erklärt, dass sie Blutkrebs habe und dass sie jetzt auf eine Station komme, auf der die Kinder keine Haare haben. Lea hat sie erschrocken angesehen: „Habe ich dann auch keine Haare mehr, Mama?“

Lea sitzt ganz vorne in einem Waggon neben ihrer Mutter. In gemütlichem Tempo fährt der Legolandexpress durch den Freizeitpark, durch „die Allgäuer Alpen“, hinweg über Landschaften aus bunten Legosteinen. Lea schaut interessiert, als die Frauenstimme vom Band die „Star Wars“-Szenen ankündigt. Sieben Szenen aus den Filmen wurden hier mit 1,5 Millionen Legosteinen nachgebaut. Zu Hause hat Lea kein Lego, nur Playmobil.

Es kam schlimmer, als Antje Kühner gedacht hatte. Eine normal dosierte Chemotherapie komme für Lea nicht infrage, erklärten ihr die Ärzte, sondern nur eine Hochdosis-Chemotherapie, die wirklich alle Krebszellen zerstört. Schlage diese nicht an, brauche Lea eine Knochenmarktransplantation. Am 5. März 2008 hat Lea die erste Dosis intravenös gespritzt bekommen. Mehr als drei Monate haben sie gebangt. Keiner in der Familie wäre als Spender infrage gekommen. Am 18. Juni kam endlich die Nachricht: Die Therapie wirkt. Lea braucht keine Transplantation. Es war das schönste Geschenk, das Harald Kühner an seinem Geburtstag bekommen hat.

80 Prozent der Kinder werden geheilt

Mara klammert sich an ihre Mutter, Mia an ihre Omi, Lea an die Haltestange. Sie ist die Älteste und fährt allein. Schnell fahren die Gondeln aus Lego im Kreis, zuerst geht es rückwärts, dann vorwärts. Lea drückt eine Stange ins Bein. Es tut ihr weh, doch das Adrenalin lässt sie lächeln. Ihre braunen Haare wehen im Fahrtwind.

Früher war Lea blond. Sie hat ihre Locken geliebt und sich lange gegen das Abrasieren gewehrt. Bis sie nur noch einen strohigen Mönchskranz auf dem Kopf hatte. Aus jedem Essen hat ihre Mutter die Haare gefischt. Nach zweieinhalb Monaten hat sich Lea entschieden: „Wenn ich das nächste Mal heimkomme, schneiden wir die Haare ab.“ Meistens waren sie für acht Tage am Stück im Krankenhaus, dann ging es wieder nach Hause bis zum nächsten Chemotherapieblock in der Klinik. Lea hatte an manchen Tagen solche Beinschmerzen, dass sie nicht laufen konnte. Da trug Antje Kühner ihre Tochter sogar auf die Toilette. Um die Zwillinge kümmerte sich Meike, eine Haushaltshilfe. Krankenkasse und Jugendamt haben sich die Kosten geteilt – „ein Segen“, sagt Antje Kühner. Denn so konnte sie beruhigt bei Lea sein.

Kinder, die an der Akuten Lymphatischen Leukämie erkranken, haben eine Heilungschance von 80 Prozent. Lea wusste, dass sie sterben kann. Auf der Krebsstation im Olgäle steht ein Tisch auf dem Flur, wenn ein Kind gestorben ist. Wer will, kann den Eltern auf Karten persönliche Zeilen hinterlassen, eine Nachtlampe leuchtet. Auch ein Mädchen, mit dem Lea auf der Station oft gespielt hat, hat es nicht geschafft. „Ich sterbe nicht, ich gehe nächstes Jahr in die Schule“, hat Lea ihren Eltern einmal verkündet.

Lea schwebt in Lebensgefahr

Als die Chemotherapie nach zwei Jahren fast abgeschlossen war, bekam Lea eine Lungenentzündung. Sie lag in einem Krankenzimmer mit gefilterter Luft. Ihr Vater Harald wurde nicht mehr von draußen zu ihr gelassen, nur ihre Mutter durfte bei ihr bleiben. Erst als eines Morgens die Schwester kam, den Sauerstoff runterdrehte und sagte, „jetzt hat sie’s gepackt“, ist Antje Kühner bewusst geworden, dass sie Lea beinahe verloren hätten.

Im Legoland sind diese düsteren Momente weit weg. Hier geht es höchstens darum, ob Lea nun Wildwasserbahn fahren kann oder nicht. Sie will unbedingt, doch für die Bahn müsste man 45 Minuten anstehen. Schon wieder warten. Antje Kühner ist eine geduldige Frau, aber Mara und Mia sind erschöpft. Lea schaut noch einmal traurig zurück, dann trabt sie hinter den anderen her. Ihre Mutter kauft ihr ein Eis.

Fünf Jahre lang darf der Krebs nicht zurückgekommen sein, erst dann gilt man als geheilt. Lea hat jetzt zwei Jahre hinter sich. Manchmal ist Antje Kühner froh, dass ihre Tochter so jung war, als die Leukämie ausbrach. Ein Freund von ihr, der als Kind selbst Krebs hatte, beruhigte sie damals: „Glaub mir, nächstes Jahr im Sommer hat sie die Krankheit vergessen.“