Die B 14 und andere Unzulänglichkeiten sind ein latenter Trennungsgrund für Stuttgart-Liebhaber. Gleichwohl lässt sich der Stadt vieles abgewinnen, findet Lokalchef Jan Sellner.

Stadtleben/Stadtkultur: Jan Sellner (jse)

Stuttgart - Stuttgart ist schön! Darf man das als kritischer Beobachter sagen? Nicht verschämt, sondern ganz offen? Die Stadt ist sehenswert, manchmal sogar liebenswert in jedem Fall lebenswert. Diese Beobachtung entspringt nicht dem Überschwang eines Sommermorgens, der Stuttgart in ein mildes Licht taucht, sondern einem halbwegs unvoreingenommenen Blick.

 

Stuttgart hat was! Es hat den Schlossplatz samt Schlössern und den grün gerahmten Karlsplatz und die Markthalle und das Ensemble um die Oper und das Stadtpalais mit „Meer“ und überhaupt jede Menge Kultureinrichtungen und viele Ausgeh- und Einkaufsmöglichkeiten und ein großes Sportangebot und Tausende auskömmliche Arbeitsplätze und Dutzende Stadtteile, die ihr Eigenleben pflegen, was dazu beiträgt, dass die Stadt als Ganzes ungewöhnlich lebendig wirkt – eben weil sie viele Leben hat.

Viele junge Leute finden an Stuttgart Gefallen

Stuttgart hat Charakter, einen auffallend guten, weil es in dieser Stadt gelingt, dass Menschen unterschiedlichster Herkunft und aus allen Generationen ganz überwiegend friedlich zusammenarbeiten und -leben. Welchen Wert dies darstellt, ermisst man dann, wenn einem anderswo das Gegenteil begegnet. Die Menschen sind es auch, die im eigentlichen Sinne das Gesicht Stuttgarts prägen. Ein interessiertes, ausdrucksstarkes Gesicht.

Stuttgart ist schön, finden gerade viele junge Leute, die her etwas bewegen und auf die Beine stellen wollen. Mehr und mehr wird Stuttgart zur Stadt der kleinen privaten Initiativen. Vielleicht steht das irgendwann auch in einem der Reiseführer, mit denen die auffällig vielen Touristen in der Stadt zwischen Wald und Reben, zwischen Hügeln und Kessel und Daimler und Porsche unterwegs sind.

Klar gehen die Ansichten auseinander; über Schönheit lässt sich trefflich streiten. Neulich abends auf der Aussichtsplattform beim Teehaus im Weißenburgpark, einem der schönsten Orte der Stadt, saß links ein junges Paar und rechts ein älteres. Beide Paare ließen den Blicke über den Talkessel schweifen. „Voll schön die Stadt“, sagte die junge Studentin. Ihr Freund stimmte zu: „Ja, mega!“ Das ältere Paar sah das anders: „Von hier oben erkennt man nicht die Details“, sagte der Mann. Und die Frau: „Zum Glück!“ Die gleiche Aussicht auf die Stadt, aber eine gänzlich andere Wahrnehmung.

Nicht immer mit anderen Städten vergleichen

Beide haben recht. Stuttgart ist schön, aber es kann noch um einiges schöner werden. Denn von allem früher Gesagten ist ja nichts zurückzunehmen: Stuttgart vernachlässigt den Neckar; es gibt zu viel Verkehr und zu wenige Bäume. Die B 14 ist ein latenter Trennungsgrund für Liebhaber der Stadt. Stuttgart 21, das Milliardenprojekt, wird ein ewiger Streitpunkt bleiben, so wie der amputierte Bonatzbau eine kaum heilbare Wunde darstellt. Auch sonst scheinen sich die Baustellen niemals zu schließen. Die Situation auf dem Wohnungsmarkt ist kritisch bis unlösbar, weil Stuttgart durch die Topografie enge Grenzen gesetzt sind und sich die Stadt nicht endlos nachverdichten lässt.

All das ist richtig. Auch dass die städtischen Mühlen oft viel zu langsam mahlen und die Lokalpolitik häufig uninspiriert wirkt. Und trotzdem kann man dieser Stadt vieles abgewinnen und zu dem Schluss kommen: Stuttgart ist schön! Und übrigens nicht schöner oder weniger schön als . . . Das ewige Vergleichen mit dieser oder jenen Stadt hat den Charakter einer Selbstbespiegelung. Es bewirkt nichts. Es sei denn man ist bereit, von anderen zu lernen.

jan.sellner@stzn.de