Hetzkampagnen in Boulevardmedien vor dem Votum, offene oder versteckte Ausländerfeindlichkeit und schwacher Sterling nach dem Volksentscheid. Wie lebt es sich als Deutsche in London nach dem Brexit? Ein Erfahrungsbericht von Bloggerin Jasmin Arensmeier.

London - „Oh, sie möchten bestimmt in Euro bezahlen?“ lacht mich der Verkäufer bei Selfridges an, als ich ein paar Requisiten für ein Modeshooting abholen und bezahlen will. Ich nicke und er seufzt während er meine deutsche Kreditkarte ratschend durch das Gerät zieht: „Lohnt sich ja heute besonders!“ grinst er - Galgenhumor. 1,31 Dollar ist der britische Pfund gerade wert, der stabile Sterling ist aufgeweicht. Die letzten Monate war es für mich immer ein Nachteil gewesen, dass ich mein Geld noch hauptsächlich in Euro verdiente. Nur wenige Tage nach dem Referendum gibt es mir etwas mehr Flexibilität und Seelenfrieden - und nicht zuletzt ein Stückchen „echte“ Heimat.

 

Offenheit, Mut und Individualität - Werte und Worte die die Modebranche in London beschreiben. Ein Lebensgefühl vermitteln, das mich Ende 2015 hierher gebracht hat. Das Auswandern in eine der meistbesuchten Städte der Welt wurde von Anfang an von allen Seiten romantisiert. Dabei war es für mich alles andere als Liebe auf den ersten Blick. Für mich als freiberufliche Kreative und Mode-Bloggerin trotzdem voller neuer Möglichkeiten und eine Chance mich weiterzuentwickeln, neue Kontakte zu knüpfen und meine Entrepreneur-Gedanken zu internationalisieren.

Hetzkampagnen in den Boulevardmedien

Ganz tief in mir drin wusste ich von Anfang an, dass die wichtigste Erfahrung des neuen Jahres „das erste Mal Ausländer sein“ werden würde - und so war es auch. Das EU-Referendum war die letzten Monate unterschwellig dauerhaft ein Thema. Hetzkampagnen in den schonungslosen britischen Boulevardmedien und laute Statements in Form von selbstklebenden Fensterbildern in jedem zweiten Fenster: „Leave“ oder „Remain“. London ist multikulturell, ein Ort an dem viele verschiedene Menschen aufeinander treffen und ich einige Wochen verstreichen lassen musste, bis ich einen Einheimischen zu meinen Freunden zählen konnte.

Neben Italienern, Franzosen, Indern und all den anderen vertretenen Nationen sind die „echten Briten“ schwer zu finden und wenn, dann reden sie selten über Politik. Den Tag des Referendums erlebte ich als Zaungast, Beobachter - interessiert aber machtlos. Die neue Generation Y bringt wirklich unzählige Möglichkeiten der Berichterstattung mit sich: Live Snapchats aus der Wahlkabine, 13.000 Tweets pro Minute zum Thema und nicht zuletzt ein Medienspiegel in 100%iger Echtzeit. Nach hitzigen Gesprächen mit Freunden und Kollegen (alle Ausländer) aus dem Kreativbereich beschließen wir: „Das wird knapp und ein unangenehmes Ergebnis, das hoffentlich viele wachrüttelt. Aber die Mehrheit wird bestimmt für den Verbleib in der EU stimmen.“

Handy im Flugmodus

Mein Handy stellte ich bis zum nächsten Morgen in den Flugmodus. Ich hatte mir einen Artikel angeschaut, der über das Timing und die Zuverlässigkeit der ersten Hochrechnungen berichtete und nahm mir vor, mich morgens vor vollendete Tatsachen zu stellen. Kurz vor Arbeitsbeginn am nächsten Morgen klappte ich den Laptop auf und stellte mein Handy an: Ein schrilles Konzert aus Notifications, Vibrationsalarm und Benachrichtigen, die nichts Gutes verheißen sollten. 51,9% haben Gefallen am Kofferwort „Brexit“ gefunden und sich für den Austritt aus der EU entschieden. Eine schwache Mehrheit, die eine starke Entscheidung gefällt hat.

Das permanente Brummen meines Telefons verschwimmt mit meiner eigenen Ungläubigkeit und ich verschwinde für einige Stunden in einem Strudel aus Livetickern, Tweets und Nachrichtendiensten. Als wir das Haus verlassen, fällt mir das erste Mal der „Leave“-Sticker an der Tür des Nachbarhauses auf. Irgendwie fühle ich mich angesprochen. Meine aufkeimenden Heimatgefühle sind zerplatzt. Als ich wieder „Zuhause“ bin, schaue ich mir das direkte Wahlergebnis aus meinem Wahlkreis an. Nur 24% aus meiner Nachbarschaft haben „Leave“ gestimmt - was mich tröstet.

Alltagsrassismus in englischen Städten

Generell kann man den Alltagsrassismus der in anderen Städten Englands Normalität ist, in London nur erahnen. An diesem Tag frage ich jeden, der mir über den Weg läuft, was er gestimmt hat und was er denkt. Zwei Taxifahrer, einen Architekturprofessor, einen Koch und eine junge Studentin: Keiner teilt die Meinung mit der „Mehrheit“. Ich erinnere mich an „Offenheit, Mut und Individualität“ und frage mich, was davon noch bleibt. Ich selber möchte den Brexit nicht zu meinem persönlichen Schicksal machen. Gefühlt gewinnt hier momentan nämlich keiner: Zurück bleibt ein schwaches Europa, ein geteiltes Land und das individuelle Verhängnis vieler Einzelner als Kollateralschaden.

Der Status Quo ist ein metaphorisches Dominospiel: Ein Rücktritt nach dem anderen, zurückgezogene Slogans aus dem „Leave“-Wahlkampf, der britische Pfund im freien Fall. Doch neben mir als Ausländerin fühlen sich gerade auch 48,1 % fremd im eigenen Land, unverstanden von Nachbarn und Arbeitskollegen, über den Mund gefahren und vor vollendete Tatsachen gestellt. Ob der 23. Juni 2016 Auswirkungen auf meinen eigenen Lebensweg haben wird, werden wir erst in ungefähr zwei Jahren sehen. Generell möchte ich im Referendum keinen Grund für einen Standortwechsel suchen, eine gewisse Unsicherheit und fröstelndes Fremdeln bleibt. Die Ereignisse der letzten Tage werden richtungsweisend dafür sein, wo meine Reise hingeht. Oder eben endet.

Zur Person

Jasmin Arensmeier, 29, aufgewachsen in Waiblingen/Hohenacker. Nach dem Studium der Allgemeinen Rhetorik und Medienwissenschaft hat sie in Stuttgart einen Master in Unternehmenskommunikation gemacht. Beruflich war sie schon immer in der Mode Zuhause und hat sich nach einigen Jahren in der Verlags- und Agenturbranche 2015 den Traum von der Selbstständigkeit erfüllt. Privat zog es sie Ende des Jahres nach Großbritannien. Hier schreibt sie hauptberuflich für ihren Blog über Stil und Mode und betreut Foto- und Videoproduktionen aus dem Lifestyle- und Beautybereich.

Auf dem Instagram-Account von Jasmin Arensmeier finden sich Fotos aus ihrem Leben in London. Zudem hat sie auf ihrer Homepage eine Kommentarsammlung zum Brexit mit anderen EU-Bürgern veröffentlicht.