Leben mit Schizophrenie Psychose beim eigenen Kind - „Diese Distanziertheit verstehen andere nicht“
Wenn ein Kind an einer Psychose erkrankt, leidet die Familie mit. Zwei Eltern aus Stuttgart erzählen, wie sie mit der Krankheit ihrer Kinder umgehen.
Wenn ein Kind an einer Psychose erkrankt, leidet die Familie mit. Zwei Eltern aus Stuttgart erzählen, wie sie mit der Krankheit ihrer Kinder umgehen.
Depressionen, ADHS, Autismus – das sind psychische Erkrankungen, über die heutzutage viele offen sprechen. Prominente und Privatpersonen berichten in sozialen Netzwerken offen von ihren Diagnosen – um Tabus zu brechen.
Doch psychotische Erkrankungen sind nach wie vor stark stigmatisiert. Betroffene gelten für viele als „verrückt“, teils auch gefährlich. Unter „schizophren“ stellen sich viele eine doppelte Persönlichkeit vor: jemanden mit einer guten und einer bösen Seite – so wie im Film von Dr. Jekyll and Mr. Hyde. Doch dieses Bild beruht auf falschen Vorstellungen.
„Schizophren erkrankte Menschen leiden häufig doppelt. Zum einen an der Krankheit, zum anderen an der gesellschaftlichen Stigmatisierung“, sagt Peter Maier (Name geändert), ein Mitglied der Stuttgarter Aktionsgemeinschaft von Angehörigen psychisch Kranker. Er ist in seiner Familie selbst betroffen. Deshalb weiß er, was es mit einem Menschen macht, wenn Ärzte die „Generaldiagnose“ Schizophrenie stellen. „Ich halte das für gefährlich, weil die Diagnose sehr negativ behaftet ist“, sagt Maier.
Als Beispiel nennt Maier die Berichterstattung nach dem Absturz einer Germanwings-Maschine im Jahr 2015. Die mediale Diskussion über den Piloten Andreas L. verfestigte das Vorurteil, psychisch Kranke seien gefährlich – dabei zeigen Statistiken, dass sie nicht gefährlicher sind als Gesunde.
Schizophrenie sei ohnehin eine schwammige Diagnose. Die Bandbreite reicht vom Mathematiker und Nobelpreisträger John Nash bis zu Patienten, die kaum aktiv sind. Seit eines seiner Kinder von der Krankheit betroffen ist, sieht Maier die klassische Medizin und Psychiatrie kritischer. Er halte stattdessen viel von der der Salutogenese – ein Modell, das die Entstehung und Erhaltung von Gesundheit untersucht und Wege zur Genesung öffnet. „Zwischen krank und gesund liegt eine große Bandbreite“, sagt er.
Die WHO definiert Schizophrenie in der ICD-11 neu. Subtypen sind entfallen, Diagnosekriterien orientieren sich an mindestens zwei Symptomen, darunter Wahnvorstellungen oder Halluzinationen wie Stimmen hören.
Auch Forscher wie Ludger Tebartz van Elst vom Universitätsklinikum Freiburg fordern, den Begriff Schizophrenie eventuell ganz abzuschaffen. Er sei ein Sammelbegriff für verschiedene Ursachen und verhindere differenzierte Diagnosen.
Auch in der Forschung verändert sich der Blick auf psychische Erkrankungen. Tobias Hauser erforscht am Universitätsklinikum Tübingen, wie unser Gehirn Entscheidungen trifft. „Vor allem bei Zwangsstörungen und Schizophrenie sind diese Verhaltensmuster extrem ausgeprägt und erzeugen bei Betroffenen einen hohen Leidensdruck“, sagt Hauser, Professor für Computational Psychiatry im Fachbereich Allgemeine Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Tübingen.
Menschen mit Schizophrenie treffen laut Hauser oft übereilte Entscheidungen und vertrauen diesen übermäßig. Ein Phänomen, das in der Wissenschaft auch als„Jumping-to-Conclusions“ bezeichnet wird. Obwohl diese Denkverzerrungen einen großen Einfluss auf das Leben der Betroffenen habe, würden diese bislang kaum gezielt behandelt. „Unser Ziel ist es daher, die neuronalen Mechanismen im Gehirn, die zu diesen verzerrten Denkmustern führen, zu entschlüsseln“, sagt Hauser.
Bisher werden schizophrene Erkrankungen vornehmlich mit Medikamenten behandelt, wobei dabei nicht berücksichtigt wird, welche Symptome bei einem Patienten im Vordergrund stehen. Hauser spricht im Zuge seiner Forschung von „Präzisionspsychiatrie“: Dabei gehe es darum, „individuelle Interventionen anzubieten und die Symptome zu behandeln, welche auch tatsächlich beeinträchtigend sind.“
Vor allem bei Betroffenen, die aufgrund bestimmter Symptome zwar die Diagnose Schizophrenie erhalten haben, aber eigentlich andere Beschwerden im Vordergrund stehen, könnten gezielte Therapien, die an den Symptomen ansetzen, in Zukunft hilfreich sein.
Maria Fernandez (Name geändert), eine Mutter aus dem Arbeitskreis Angehörige Stuttgart, sagt, bei ihrem Sohn sei es immer unklar gewesen, ob die Diagnose nun zutreffe. Mit 18 Jahren hat ihr Sohn ein Studium begonnen, nach kurzer Zeit entwickelte sich bei ihm eine Depression. Für die Familie sei dies ein „tiefes Tal“ gewesen. „Er hat sich mehr und mehr zurückgezogen“, sagt seine Mutter. Er suchte sich an der Uni psychologische Hilfe. „Er wollte es schaffen“, sagt Fernandez. Allerdings habe er sich selbst Tabletten besorgt, möglicherweise hätten diese die psychotischen Zustände ausgelöst.
Fernandez sagt, ihr Sohn sei schon immer introvertiert gewesen und er brauche feste Strukturen. Als kürzlich die Therapie ausgelaufen sei, sei er enttäuscht gewesen – die Therapeutin habe ihn sehr unterstützt. „Er braucht Dinge, die ihm Halt und Stabilität geben – wie sein Zuhause oder Sport.“ Inzwischen mache er täglich Sport. „Seitdem ist er viel besser gelaunt.“ Für Außenstehende ist die Krankheit schwer zu verstehen. „Vor allem diese Distanziertheit – die verstehen andere nicht. Mein Sohn nimmt die Nachbarn auf der Straße gar nicht wirklich wahr“, sagt die Mutter.
Weil ihr Sohn Schwierigkeiten hat, mit seiner Krankheit offen umzugehen und wenigen Freunden davon erzählt hat, möchte Fernandez anonym bleiben. Die Familie lebt in der Region Stuttgart. „Seine Freunde stehen zu ihm, dafür sind wir dankbar“, sagt sie.
Auch schäme er sich für seine Krankheit. Bei ihrem jüngeren Kind sei dies anders. Er habe neulich zu ihr gesagt: „Mama, bei uns ist das nicht mehr so ein großes Thema!“ Das gibt ihr Hoffnung, dass sich auch für ihr betroffenes Kind einiges zum Besseren wendet.
Leidet ein Kind an einer psychischen Erkrankung, betrifft das die ganze Familie. Warum mein Kind? Haben wir etwas falsch gemacht? Fragen, die sich viele Eltern stellen. Dabei konnten Familien-, Zwillings- und Adoptionsstudien zeigen, dass es eine genetische Komponente bei der Entstehung der Schizophrenie gibt. Eine hohe Erblichkeit bedeutet übrigens nicht, dass eine Krankheit nicht heilbar ist.
Eine finnische Meta-Analyse aus dem Jahr 2012 zeigte, dass sich rund 14 Prozent der Betroffenen vollständig erholen. Nur rund ein Drittel der Betroffenen hat lebenslange Symptome. Auch die Forscherinnen Michaela Amering und Margit Schmolke betonen in ihrem Buch „Recovery – das Ende der Unheilbarkeit“, dass ein erfülltes Leben mit Schizophrenie möglich ist.
Für Betroffene und ihre Angehörige ist es in akuten Phasen schwer, die Hoffnung nicht zu verlieren. Die Stuttgarter Selbsthilfegruppe ist für viele Eltern daher wichtig: „Die entscheidende Erfahrung ist, sich verstanden zu fühlen“, sagt Maier. „Wir hören uns zu – und geben uns Tipps.“
Maiers Sohn ist vor über zehn Jahren zum ersten Mal erkrankt. Anfang bis Mitte 20 ist das typische Alter, in dem die Krankheit bei jungen Menschen meistens erstmals auftritt. Oft müssen Betroffene über einen längeren Zeitraum Medikamente nehmen. „Seit mein Sohn erkannt hat, dass ihm die Medikamente helfen, ist er sehr dahinter her“, sagt Maier. Es helfe ihm, die Realität zu kontrollieren.
Sein Sohn war ein guter Schüler, er habe sogar einen Physikpreis erhalten und wollte ein Ingenieurstudium aufnehmen. Doch dann kam die Krankheit – und der erste Aufenthalt in der Klinik. „Ich bin froh, dass er zuerst auf einer Soteria-Station war“, sagt Peter Maier. Eine normale Psychiatrie hätte seinen Sohn in dem jungen Alter sicher „aus den Socken gehauen“.
Eine Soteria-Station ist ein besonderes Konzept. Betroffene von affektiven psychotischen Krisen erhalten ihre Behandlung in einem wohnlichen Umfeld, ähnlich einer Wohngemeinschaft. Anstatt eines typischen Krankenhauscharakters steht die Schaffung einer persönlichen und familiären Atmosphäre im Vordergrund, in der Patienten und Therapeuten auf Augenhöhe interagieren.
Seinem Sohn habe dies geholfen, sich zu stabilisieren. Er habe dann eine Ausbildung gemacht. Das habe gut geklappt, aber acht Stunden Arbeit am Tag sei ihm zu viel gewesen, Symptome wie Realitätsverlust kamen zurück. Er musste in eine psychiatrische Klinik. „Das war heftig“, sagt Maier. Aber er habe zuvor vier Jahre keine Medikamente genommen, die Nebenwirkungen seien ihm zu stark gewesen. Dennoch habe er es in den vier Jahren dazwischen geschafft, seinen Haushalt selbst zu führen.
Rückfälle gehören oft zum Krankheitsverlauf. Für Familien ist das belastend – Urlaube oder eigenes Wohlbefinden bleiben oft auf der Strecke. Als Eltern sei dies „unheimlich anstrengend“, sagt Maier.
Oft sind es die Eltern, die sich durch das Hilfesystem kämpfen, ständig auf der Suche nach Unterstützung und dem nächsten Schritt. „Und um sich selbst muss man sich ja auch noch kümmern“, sagt Maria Fernandez. Das eigene Leben bleibt häufig auf der Strecke. Auch wenn die Kinder längst erwachsen sind.
Projekt
Am Universitätsklinikum Tübingen startet im Februar 2026 ein Forschungsprojekt unter der Leitung des Professors Tobias Hauser, in dem es darum geht, neue Wege zur Erforschung und Behandlung psychischer Erkrankungen zu finden – wie bei Schizophrenie und Zwangserkrankungen. Dabei soll es darum gehen, bestimmte Symptome und die zugrunde liegenden Prozesse im Gehirn zu entschlüsseln. Mit Hilfe der funktionellen Magnetresonanztomographie wollen die Wissenschaftler einen großen Datensatz zu der Symptomatik Unentschlossenheit bei Zwangsstörungen und „Jumping to Conclusions“ bei Schizophrenie erheben.
Probanden
Bei dem Projekt untersuchen die Forscher jeweils 150 Patienten mit Zwangsstörung und Schizophrenie. Besonders Augenmerk gilt dabei dem Botenstoff Dopamin, der im Gehirn maßgeblich an Entscheidungsprozessen beteiligt ist. Langfristig soll das Projekt dazu beitragen, gezielte Therapien zu entwickeln, die direkt an diesen gestörten Entscheidungsprozessen ansetzen – eine Behandlung also, die weg von der Diagnose hin zur Linderung von Symptomen geht. Für diesen klinisch-therapeutischen Teil ist das Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf verantwortlich. (nay)