In Zeiten der Apartheid lernt eine junge Frau aus dem Schwarzwald am Kap einen Farbigen kennen. Heute gelten sie als das am längsten verheiratete, gemischtrassige Paar Südafrikas.

Kapstadt - Schattenspiele zittern über dem nahen Melkbosstrand. Der Atlantik ist milde gestimmt an diesem wolkenfreien Januarmorgen. Die Wellen streicheln den Sand, während die Zweige im Garten unter dem auffrischenden Wind gestikulieren. Auf dem Tisch im Haus liegt neben einer Wasserflasche ein deutscher Pass. „June October“ steht dort. „Geboren an Bord der NS Athlone Castle.“

 

Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn sie damals im Schwarzwald einen wie Nelson Mandela gehabt hätten. Versöhnung und Toleranz hat er gelebt. Mit beiden war es nicht allzu weit her, als Junes Mutter Marianne im Alter von 18 am Titisee schwanger wurde. Ihr Freund Gerhard war ein Bursche mit dem Flaum der Jugend im Gesicht. Die Eltern mischten sich ein, und plötzlich war da in der bürgerlichen Welt der Scheinheiligkeit eine Wand, dahinter stand eine Schwangere, die man der Schande wegen nach Südafrika zu einem Onkel schickte. Das 10 000 Kilometer entfernte Kap schien den Eltern ein guter Ort, sich dem Gewoge der Gerüchte zu entziehen.

Die Athlone Castle war ein stolzes Schiff, 1936 in Dienst gestellt, unterwegs für die britische Reederei Union-Castle-Line im Passagier- und Postverkehr zwischen Großbritannien und Südafrika. Platz für 246 Passagiere in der Ersten Klasse und 538 in der sogenannten Kabinenklasse. Marianne Oehmke, die schwangere Frau vom Titisee, reiste bescheiden. Sie hoffte, dass sich das Kind in ihrem Bauch ruhig verhalten und erst in Kapstadt ans Licht drängen würde. Aber June war damals schon eigenwillig.

Am 4. Juni 1956 setzten in den frühen Morgenstunden die Wehen ein. Eine Schwester namens Farrant kümmerte sich um die Reisende mit dem Kind. Auf einem Zettel notierte sie nach der Geburt kurz und knapp: „7.50 Uhr morgens. Mit der Zange geholt. Insgesamt 5 Pfund schwer.“ Die junge Mutter hatte sich noch keinen Namen für das Baby überlegt. Schwester Farrant löste auch dieses Problem und schlug vor, die Kleine nach dem Geburtsmonat zu benennen. Und weil zufällig auch noch ein Seelsorger auf dem Schiff war, wurde June von Pater Tarpey bei wogender See mittels Taufe in die Familie des Herrn aufgenommen.

Die Suche nach dem Glück

57 Jahre später sitzt eine fröhliche Abendländerin in Südafrika in einem hübschen Haus im Atlantic Beach Golf Estate und schaut nach draußen in ihren Garten, wo eine wilde Schildkröte aus dem Gebüsch lugt. Es ist die Szenerie einer Geschichte, die zu Rosamunde Pilcher passen würde, mit dem Unterschied, dass die Story von June October nicht sonntagabends im TV ausgestrahlt wird, sondern den Sendeplatz im wahren Leben hat.

June holt eine Coke aus dem Kühlschrank. Sie hat das alles lange nicht mehr erzählt. Die Zeit zerreibt sich im Getriebe der Welt, und plötzlich sitzt man da und redet über ein Leben, als wäre es nicht das eigene. June trifft June. „Im Rückblick betrachtet“, sagt sie, „war das alles schon verrückt.“

Die ersten drei Jahre nach ihrer Geburt lebten sie in Kapstadt. Ihre Mutter arbeitete als Sekretärin. Auf das Kind passte eine farbige Nanny auf. Im Schwarzwald sparte Vater Gerhard Mischker, um Frau und Tochter nach Hause zu holen. June sah ihrem Vater ähnlich, was die Großeltern erweichte. Es gab eine verspätete Hochzeit. Ihr Glück wollten sie trotzdem anderswo suchen. Die Mischkers brachen mit June nach Australien auf, wo der Vater als Klempner arbeitete. Es war nicht der Platz ihrer Träume. Nach drei Jahren kehrten sie in den Schwarzwald zurück. Wurzeln trieben sie nicht aus. Irgendwann fiel die Wahl auf Südafrika. Mit zwölf kam June nach Kapstadt. „Meine Mutter hatte immer erzählt, wie schön es dort ist.“

In Seapoint ging June auf eine englische Schule. Als sie erwachsen war, heuerte sie als Sekretärin bei einer Firma an, die Großküchen baute. Es war die Zeit der Rassentrennung, die Zeit der separaten Strände, Toiletten, Schulen, Aufzüge, Restaurants, Parkbänke, Blutkonserven und Rettungswagen. In den Bussen saßen die Weißen vorne und die Schwarzen hinten. Wer sich den Gesetzen entgegenstellte, kam hinter Gitter. June war auch in solchen Dingen recht eigenwillig. In der Firma begegnete ihr 1981 ein Ingenieur, in den sie sich verliebte. Seine Vorfahren waren Sklaven. Einst wurden sie nach Monaten benannt. So war das wohl auch bei Neil, der mit Nachnamen October heißt.

Das ungleiche Paar

Sein Vater stammte aus England und war Lehrer. Seine Mutter kam aus St. Helena und arbeitete als Krankenschwester. Ihr Sohn bekam eine gute Ausbildung. Eigentlich wäre das alles kaum der Rede wert, wenn da nicht die dunkle Farbe seiner Haut gewesen wäre. Während das Apartheidregime das Sagen hatte, wurden die Südafrikaner behördlich in Weiße, Farbige und Schwarze unterteilt. Neil war nach dem Gesetz ein Farbiger. June war eine Weiße. Das ging nicht zusammen.

June traf sich über Jahre heimlich mit Neil. Händchen halten war unmöglich in der Öffentlichkeit. Kam er zu ihr ins Apartment, verhielten sie sich leise. Wenn es an der Türe klopfte, öffnete sie nicht. Manchmal kam die Polizei, wenn sie einen Tipp bekommen hatte. So wie bei ihrer Freundin Karen, die auch mit einem Farbigen zusammen war. Sie öffnete nachts die Türe und wurde ins Gefängnis gesteckt. „Die Leute waren damals hässlich“, sagt June.

In den achtziger Jahren lockerte die Nationale Partei unter innerem und äußerem Druck die Politik der Rassentrennung. 1987 wurden dann Mischehen erlaubt. June zögerte nicht. Sie heiratete Neil am 13. Februar. Es war ein Freitag, und die Standesbeamtin verabschiedete sie mit den Worten: „Ich wünsche euch viel Glück. Ihr habt noch eine harte Zeit vor euch.“

In Südafrika blieb trotzdem vieles beim Alten. Die Apartheid klebte an den Sohlen wie Kaugummi. „Ich war jetzt nach dem Gesetz eine Farbige“, sagt June. In einer weißen Siedlung in Zeekoevlei kauften sie ein Haus. „Vorher musste ich jeden einzelnen Nachbarn um sein Einverständnis fragen.“ Zwei Jahre später kam ihr Sohn Timothy zur Welt. „Farbiger“ wurde in seinem Pass von den Behörden vermerkt. 1991 folgte Tochter Ashleigh. Sie wurde als „Südafrikanerin“ klassifiziert.

Es kam die Zeit des Umbruchs. Das Verbot des ANC und anderer Organisationen wurde aufgehoben und Nelson Mandela nach 27 Jahren aus der Haft entlassen. 1994 folgten die ersten freien Wahlen in Südafrika, die im überwältigenden Sieg des ANC und der Präsidentschaft Nelson Mandelas mündeten. Neil lernte ihn kennen, als er eine Spende seiner Firma übergab.

Eheliche Rekordhalter

Die „Cape Times“ hat 1995 einen Bericht über June und Neil geschrieben. Sie bewahrt ihn in einer Schublade auf. „Das am längsten verheiratete gemischtrassige Paar in Südafrika“ steht unter dem Hochzeitsfoto. June weiß nicht, ob es stimmt. Sie weiß nur, dass sie zu den Ersten gehörten, die damals vor den Altar getreten sind. Und sie weiß, dass viele Ehen zwischen Weißen und Farbigen bald wieder geschieden wurden. „Wir mussten härter an uns arbeiten als andere, um den Vorurteilen entgegenzuwirken“, sagt sie. „Letztlich kommt es wie immer im Leben darauf an, was man daraus macht.“

Ihre Ehe hielt. Vielleicht auch deswegen, weil June October, „six-ten“ von ihren Freunden genannt, ihren Neil gleich dreimal geheiratet hat. Das hatte sich so ergeben. Ihr Sohn sollte auf Wunsch der Großeltern methodistisch getauft werden. Also gingen sie zum Pfarrer. Der forderte, dass zuvor die Eltern methodistisch heiraten. Das war nach dem Standesamt ihre zweite Hochzeit. Als zwei Jahre später die Tochter zur Welt kam, sollte sie katholisch getauft werden. Das Ritual wiederholte sich. Die Eltern mussten sich erst vor einem katholischen Geistlichen das Jawort geben. „Seitdem sind wir dreifach verheiratet“, sagt June und grinst. „Da ist es fast unmöglich, sich scheiden zu lassen.“

Es ist Mittag geworden über der Geschichte der Frau aus dem Schwarzwald, die ihren Platz am Kap der guten Hoffnung am Ende doch noch fand. Am Strand lassen sich ein paar Kitesurfer vom Wind übers Wasser ziehen. Für einen Moment verschwimmen die Grenzen zwischen der Frau von damals und der Frau von heute. Junes Kinder sind inzwischen aus dem Haus, haben gute Jobs am Kap. Neil, der seit 22 Jahren bei einer Ölfirma arbeitet, bereitet sich langsam auf den Ruhestand vor.

Es gibt noch eine Reihe von Verwandten im Schwarzwald und in Ludwigsburg. Manchmal schauen sie vorbei und bleiben einige Tage. „Wenn die Deutschen kommen, dann sind sie immer ganz pünktlich“, sagt June. „Außer meiner Schwester, die kommt auch immer zu spät, was wohl daran liegt, dass sie hier geboren ist.“

Zurück in die Heimat will sie nicht. „In Deutschland gibt es so viele Wolken und Probleme. Und irgendwie haben die Leute dort nie Zeit.“ Die Familie bleibe lieber in Südafrika, das sich zum Guten verändere. Als sie vor sieben Jahren in ihr neues Haus zogen, hat keiner im Viertel nach der Hautfarbe gefragt. „Nelson Mandela hatte einen Traum“, sagt June October, „und wir leben ihn auf unsere Art.“