Der langjährige Suchtberater Ulrich Binder will einen legalen ­Zugang zu Cannabis schaffen, gleichzeitig aber den Jugendschutz verschärfen. Ein Gespräch über Sommerfestivals, die neue Hanflobby und die Gefährlichkeit eines Joints pro Tag.

Lokales: Mathias Bury (ury)
Stuttgart - - Ulrich Binder ist mit vielen Süchten aufgewachsen. Als Sohn eines Gastwirts hat er schon als Dreijähriger Zehn-pfennigstücke in Spielautomaten geworfen, mit sechs Skat gespielt, im Bierdunst mit Stammtischbrüdern geplaudert. Heute begrüßt der Geschäftsführer der Suchtberatungsstelle Release, dass eine Debatte über die Legalisierung von Cannabis geführt wird. Binder, seit 30 Jahren Suchtexperte, plädiert vor allem für eines: einen nüchternen Umgang mit Drogen.
Herr Binder, wie lange ist es her, dass Sie einen Joint geraucht haben?
Da ich noch nie geraucht habe, war das für mich naturgemäß kein Thema. Aber ich habe natürlich probiert, als ich 19 oder 20 war.
Eine Jugendsünde also?
Keine Jugendsünde. Es gehört zum Jugendalter, bestimmte Dinge auszuprobieren und Grenzen zu überschreiten.
Warum ist Cannabis so attraktiv?
Cannabis ist im Vergleich zu anderen Substanzen billig. Ich bekomme ein Gramm Haschisch für acht bis 13 Euro, ein Gramm Marihuana für acht bis elf Euro. Hinzu kommt, dass es leicht verfügbar ist. Ich kann Hanf mit geringen Kenntnissen sogar selbst anbauen und Cannabis produzieren. Die Anleitungen finde ich im Internet.
Es wird soviel wie noch nie über eine Legalisierung von Cannabis diskutiert. Selbst der Waiblinger CDU-Bundestagsabgeordnete Joachim Pfeiffer ist dafür. Was ist da los?
Es gibt auf der ganzen Welt Legalisierungstendenzen. In den USA ist man von dem Krieg gegen Drogen abgekommen, stattdessen ist in immer mehr Staaten ein legaler Zugang möglich. Was nicht gleichzusetzen ist mit Legalisierung. Legaler Zugang heißt, dass Anbau und Verkauf reguliert werden. In Deutschland ist der Erwerb und Besitz von Cannabis strafbar, trotzdem sagt die europäische Beobachtungsstelle für Drogen, dass ein Prozent der Bevölkerung regelmäßig Cannabis konsumiert.
Was heißt das für Stuttgart? Und kifft eher die Halbhöhenlage oder der Hallschlag?
Es wird überall in Stuttgart gekifft, unabhängig von Status und Bildungsstand. Etwa 6000 Stuttgarter rauchen regelmäßig ihren Joint. Und sie tun dies natürlich nicht an den stadtbekannten Drogenumschlagplätzen wie der Paulinenbrücke, sondern zu Hause oder auf einer Party. Vor ein paar Jahren haben wir uns an einer Studie beteiligt, die sich auch an ältere langjährige Cannabiskonsumenten gewandt hat. Zu uns gekommen sind beruflich erfolgreiche Männer, die seit 30 Jahren kiffen, nie in einer Beratung waren und ihren Konsum reduzieren wollten.