Manuel ist Legastheniker. Beim Schreiben hat der 17-Jährige das Niveau eines Drittklässlers. Hilfe bekommt er am Lehrinstitut für Orthografie und Schreibtechnik.

Zuffenhausen - Perfekt Deutsch schreiben, die Muttersprache, das sollte man schon können“, sagt Manuel Thiemann. Er selbst versucht es, „so gut es eben geht“. Denn dem 17-jährigen Zuffenhäuser fallen das Lesen und vor allem das Schreiben sehr schwer. Manuel, der in Wirklichkeit anders heißt, ist einer von 7,5 Millionen funktionalen Analphabeten in Deutschland. Im Gegensatz zu absoluten Analphabeten, die meist in Ländern der Dritten Welt leben und ohne Schulbildung überhaupt keine Zeichen entziffern können, erkennen funktionale Analphabeten Buchstaben und können in langsamem Tempo auch lesen. „Aber es ist nicht so gut, dass sie damit in ihrer Lebenswelt zurechtkommen“, sagt Edith Illek, die Leiterin des Lehrinstituts für Orthografie und Schreibtechnik (LOS) in Bad Cannstatt.

 

Seit Januar besucht Manuel jede Woche das LOS für drei Stunden Unterricht. Beim Lesen und Schreiben hat er den Stand eines mittelmäßigen Drittklässlers. Bei seiner Einschulung sei zunächst alles ganz normal verlaufen, erzählt seine Mutter. In der ersten Klasse habe er anfangs sogar zu den Besten gehört. „Aber nach einem Jahr habe ich gemerkt, da stimmt etwas nicht. Er wollte einfach nicht lernen“, sagt Renate Thiemann (Name ebenfalls geändert). „Irgendwann hab ich’s aufgegeben.“ In der dritten Klasse wechselte Manuel auf eine Förderschule; vergangenes Jahr absolvierte er dort seinen Hauptschulabschluss. Seine Noten waren nicht einmal schlecht, da die Lehrer ein Auge zu drückten.

Manuel ist ruhiger geworden

Doch Manuels Mutter war nach wie vor in großer Sorge um die berufliche Zukunft ihres Sohnes. In der Zeitung erfuhr sie vom Angebot des LOS. „Ich habe mit meinem Sohn gesprochen und er meinte, das will er machen.“ Renate Thiemann ist froh, dass Manuel seine Freizeit für das zusätzliche Pauken opfert, und zwar freiwillig. „Er ist viel zufriedener und ruhiger geworden, seit er hier ist“, beobachtet sie. „Ich merke, dass ihm gefällt, was er hier tut.“ Inzwischen frage der 17-Jährige seine Mutter sogar hin und wieder nach einem Teil der Zeitung.

Seit August macht Manuel in einem Baumarkt eine Ausbildung als Verkäufer. Mit seinem Arbeitgeber hat er ausgemacht, dass er freitags den Förderkurs besuchen darf. Dann paukt er zusammen mit einer Hand voll anderen Legasthenikern Groß- und Kleinschreibung, Zeichensetzung und S-Laute. „Es sind dieselben Übungen wie an der Schule, nur mit sehr viel mehr Zeit“, sagt Edith Illek. Manuel merkt selbst die Fortschritte, die er gemacht hat. „Es ist schon viel leichter geworden. Wenn ich was schreibe, dann macht es klick.“

Es fehlt eine schriftliche Bestätigung der Leseschwäche

Bald stehen die ersten Prüfungen an der Berufsschule an. Manuel hat den Lehrern zwar von seiner Lese-Rechtschreib-Störung erzählt, doch die Schule besteht auf einer schriftlichen Bestätigung, um dies bei den Noten berücksichtigen zu können. „Aber überall wo ich anrufe, heißt es, das machen wir nicht“, sagt Renate Thiemann. Die Testergebnisse, die Edith Illek von Manuel vorliegen hat, würden nicht anerkannt. „Manche Schulen akzeptieren sie, andere nicht. Das ist ein bisschen beliebig“, meint die Sprachlehrerin. Nun hofft Thiemann, dass das Jugendamt ihr die nötige schriftliche Bestätigung ausstellt. „Mein Sohn hat doch sonst keine Chance und fällt bei den Prüfungen durch“, sagt sie.

Was zu einer Lese-Rechtschreib-Störung führt, kann laut Illek ganz verschiedene Gründe haben. Neben einer Hörschwäche könne auch ein motorischer Mangel die Ursache sein oder ein problematisches Verhältnis zum Lehrer. Ein geringer Intelligenzquotient könne ebenfalls eine Rolle spielen, „aber auch mit einem ganz normalen IQ kann Legasthenie auftreten“, versichert die Sprachlehrerin. So zählt auch eine Jurastudentin zum Schülerkreis des LOS. Wichtig sei, früh mit der Förderung zu beginnen. „Wenn man in der Grundschule anfängt, kann man viel abfangen.“ Häufig stünden jedoch die Kosten im Weg. Das Jugendamt fördere nur dann, wenn einem Kind oder jungen Erwachsenen bis 24 Jahren „eine seelische Behinderung droht“, weiß Illek. Die Agentur für Arbeit finanziert Kurse in Einzelfällen, „wenn sie in einem beruflichen Kontext stehen“, so eine Sprecherin. Allerdings müsse der Bedarf geprüft werden, bevor eine Ausbildung oder Arbeitsstelle angetreten wird. Ein Rechtsanspruch bestehe nicht. Renate Thiemann zahlt Manuels Kurs selbst. Zwar wird es für die alleinerziehende Mutter am Monatsende manchmal recht knapp, „aber ich spare lieber an mir selbst. Es ist ja Manuels Zukunft, die auf dem Spiel steht.“

Der tägliche Kampf mit den Buchstaben

Analphabetismus
: Laut einer Studie der Universität Hamburg aus dem Jahr 2011 sind in Deutschland vierzehn Prozent der 18- bis 64-Jährigen „funktionale Analphabeten“. Das entspricht 7,5 Millionen Menschen. Rund zwei Drittel von ihnen sind Männer. Betroffene können einzelne Sätze lesen oder schreiben, aber keine zusammenhängende Texte. Etwa ein Viertel der erwerbsfähigen Deutschen – mehr als 13 Millionen Menschen – schreiben den gebräuchlichen Wortschatz fehlerhaft.

LOS:
Das Lehrinstitut für Orthografie und Sprachkompetenz (LOS) wurde 1982 in Saarbrücken gegründet. Inzwischen gibt es bundesweit etwa 200 Institute. In Stuttgart gründete Edith Illek vor 15 Jahren ein LOS in Bad Cannstatt, ein weiteres existiert in Degerloch. Rechtschreib- und Leseleistungen werden geprüft und in kleinen Gruppen gezielt gefördert. Kontakt zu Edith Illek gibt es unter der Nummer 549 89 11.