Am Sonntag spielt die Mannschaft des VfB Stuttgart in Traditionstrikots gegen Eintracht Frankfurt. Die Vereinslegende Erich Retter, früherer Rechtsverteidiger, spricht im Interview nicht nur über die guten alten Zeiten des Vereins.

Sport: Carlos Ubina (cu)
- Stuttgart – - Erich Retter hat seinen festen Platz in der Ehrengalerie des VfB Stuttgart. Denn der frühere Rechtsverteidiger gehört zu den Spielern, die in den 50er Jahren den Ruhm des Vereins begründet haben. Heute ist der 88-Jährige der letzte lebende Spieler aus der ersten Meisterelf von 1950 – und er verfolgt noch immer interessiert die Entwicklung beim VfB.
Fit sieht er aus. Die Haare grau, ein Lächeln im Gesicht und die Figur schlank. Etwas weniger als sein früheres Kampfgewicht bringe er auf die Waage, sagt Erich Retter. Und sein Rezept verrät der VfB-Veteran auch: Essen und Trinken in Maßen. Was ihm nicht schwer fällt, weil ihn der Sport Disziplin gelehrt hat. So hält es der ehemalige Fußballer auch mit der Reha nach einer Operation. Erich Retter absolviert seine Übungen konsequent, um wieder besser gehen und weiter die Einkäufe im Wohnort Esslingen-Hegensberg tätigen zu können.
Herr Retter, der VfB feiert 120. Geburtstag und spielt aus diesem Anlass nun gegen Frankfurt in neuen Trikots. Diese sind den Meistertrikots von 1950 nachempfunden.
Ach ja. Das ist schön. Zumal wir damals nicht nur überraschend Meister geworden sind. Der ganze VfB war zu jener Zeit nicht so gefragt. Erst danach ging es richtig aufwärts mit dem Verein.
Und in Stuttgart herrschte bei der Ankunft der Mannschaft nach dem Finale der Ausnahmezustand.
Das ging schon in Berlin los, beim Siegerbankett. Als wir dann in Stuttgart mit dem Zug einfuhren, war das ein erhebendes Gefühl. Die ganze Umgebung war auf den Beinen und hat uns während des Autokorsos durch die Stadt nach Bad Cannstatt zugejubelt. Der Konfettiregen auf der Königstraße – das war schon ein Erlebnis. Einmalig.
Um so weit zu kommen, soll es sportlich ein hartes Stück Arbeit gewesen sein.
Es gab einige Mannschaften die bekannter waren als wir. Doch wir waren eine Einheit. So hat es auf dem Weg ins Endspiel zum Beispiel gegen den VfL Osnabrück viel gebraucht, aber dann ist es gelaufen und wir haben auch das Finale gegen die Offenbacher Kickers mit 2:1 gewonnen.
Eine ähnliche Euphorie gab es zuletzt wohl nach der Meisterschaft 2007 in Stuttgart. Sind Sie noch regelmäßig im Stadion, um Ihre Nachfolger zu begutachten?
Zuletzt nicht mehr. Ich musste mich kürzlich einer Operation am Bein unterziehen und benötige zeitweise noch eine Gehhilfe. Mit einer Krücke wird mich aber keiner auf der Tribüne sehen. Den Retter kennt doch da jeder. Dazu bin ich viel zu ehrgeizig.
Sie können aber weiter fleißig ihre Gymnastik machen und dann mal wieder ohne Gehhilfe vorbeischauen.
Wissen Sie, der VfB lässt meiner Frau und mir zwar jederzeit Karten zukommen und würde auch einen Fahrdienst einrichten, doch ich will niemandem zur Last fallen.
Aber fehlt Ihnen nicht ein wenig das Stadionerlebnis, die Nähe zum Fußball?
Ehrlich gesagt, zieht es mich nicht mehr so da runter. Denn der VfB hat zuletzt in den Heimspielen nicht gerade attraktiv gespielt. Wenn ich schon ins Stadion gehe, dann will ich auch was sehen. Ich sage immer: Fußball ist schön – wenn man’s kann.
Kann es der aktuelle VfB nicht so gut?
Doch schon. Er verfügt über gute Spieler, aber es ist keiner da, der die anderen einmal anpfeift und mitreißt.
So wie früher Robert Schlienz.
Ja. Ich war viel mit Robert zusammen. Bei den Auswärtsspielen haben wir häufig im Hotel ein Zimmer geteilt. Da habe ich ihm nach seinem Autounfall und dem Verlust des linken Unterarms oft auch beim Kofferpacken geholfen. Wir hatten insgesamt eine tolle Kameradschaft und sind nach dem Training oft im Clubhaus zusammengesessen und haben noch gesungen. Aber so etwas gibt es heute nicht mehr.
Erich Retter ist nicht in der Vergangenheit gefangen. Er erzählt zwar gerne von den guten alten Zeiten, und weiß, dass er dem Fußball viel zu verdanken hat, doch er will dies nicht überbewertet wissen. Vielmehr lebt er mit seiner Frau Elisabeth (die Schwester von Josef Ledl, dem Stuttgarter Meisterspieler von 1950 aus Ingolstadt) zufrieden im Hier und Jetzt – und schaut auch in die Zukunft. Dabei geht das Ehepaar Retter im Familienleben mit dem Sohn Dietmar und den beiden Enkelkindern auf.
Bedauern Sie manchmal, nicht heute zu spielen und ein Bundesligastar zu sein?
Nein, keineswegs. Man kann die Zeiten einfach nicht miteinander vergleichen. Als ich noch die Tankstelle in der Mercedesstraße vor dem Stadion betrieben habe, da habe ich die Förster-Buben mal gefragt, warum sie nach dem Training denn immer gleich abhauen würden. Da haben sie geantwortet: Das ist doch Arbeitszeit. Privat würden sie lieber andere Wege gehen.
Bedauern Sie denn, dass Sie damals vergleichsweise wenig verdient haben?
Ach was. Die Leute hier in Hegensberg sagen oft zu mir: Mensch Erich, wenn Du heute beim VfB spielen würdest, dann wärst Du reich. Aber das interessiert mich doch nicht.
Was interessiert Sie dann?
Ich hatte sportlich eine schöne Zeit, habe zeitweise parallel die Tankstelle betrieben – und ich konnte mir ein eigenes Haus leisten. Was will ich denn mehr. Außerdem haben wir in der Familie ein sehr gutes Verhältnis. Das ist doch viel mehr Wert als das ganze Geld, zumal wir ja auch ein paar Mark verdient haben.
Wie viel?
320 Mark im Monat, später 400.
Ein bescheidenes Salär.
Natürlich haben wir auch noch Prämien bekommen. Für den Meistertitel waren zum Beispiel 500 Mark pro Mann vom DFB festgelegt. Wir haben vom VfB aber etwas mehr erhalten.
Wie kam das?
Ich weiß noch, wie sich die komplette Mannschaft zu den Verhandlungen mit der Vereinsführung des VfB im Clubhaus traf. Otto Schmid – genannt Gummi-Schmid, unser Torwart, falls Ihnen das nichts mehr sagt – hat für uns gesprochen und 2000 Mark herausgeholt. Das war schon was. Doch der Verein hat zunächst gemeint: die älteren Spieler bekommen so viel, die jüngeren nicht. Da haben wir uns zusammengetan und gesagt: Dann spielen wir eben nicht. Schon hat’s geklappt, denn zu Fünft konnten sie ja auch nicht antreten.
Heute treten die Spieler häufig wie Ich-AGs auf und denken erst in zweiter Linie an die Mannschaft oder den Verein.
Wir hatten einfach ein engeres Verhältnis untereinander. Auch mit dem Trainer. Georg Wurzer, unser Meistertrainer, hat sich Tag und Nacht um jeden Einzelnen von uns gekümmert. Vor allem, wenn einer verletzt war. Da war er mit seiner Ansprache und Fürsorge besser als jeder Arzt.
Auch Sie mussten eine bittere Verletzung wegstecken.
Ich habe mich im letzten Testspiel vor der WM 1954 im Basler St.-Jakob-Stadion am Knie verletzt. Da hat mich Georg Wurzer am Stuttgarter Bahnhof vom Zug abgeholt und ist gleich mit mir zur Untersuchung gefahren. Der Meniskus war kaputt.
Durch diese Verletzung beim 5:3-Sieg gegen die Schweiz in seinem zwölften Länderspiel verpasste der damalige Stammspieler Erich Retter die WM 1954 und das Wunder von Bern mit dem Titelgewinn, der zum Gründungsmythos der Bundesrepublik gehört. Danach bestritt der Verteidiger, der auch durch sein Aufbauspiel überzeugte, noch zwei Länderspiele. Zum VfB war er 1947 jedoch nicht als Abwehrspieler gekommen. Zu Beginn seiner Karriere war Erich Retter Stürmer gewesen.
Wie haben Sie ihr persönliches WM-Aus verkraftet?
Das war schon eine schwere Zeit, weil ich bereits nominiert war. Jupp Posipal ist dann auf meinen rechten Verteidigerposten gerückt und Werner Liebrich übernahm dessen Aufgabe als Mittelläufer. Liebrich wäre sonst gar nicht bei der Weltmeisterschaft dabei gewesen. Er hatte zuvor noch in der B-Elf gespielt. Unsere Verbundenheit in der Mannschaft war dennoch groß. So lange Fritz Walter, unser Kapitän, noch gelebt hat, hat er mir jedes Jahr zum Geburtstag eine Flasche Sekt samt Gratulationskarte geschickt.
Wie war Ihr Verhältnis zum legendären Bundestrainer Sepp Herberger?
Sehr gut. Er war wie ein Vater zu uns Spielern. Wenn wir vor den Länderspielen spazieren gegangen sind, dann hat er einen am Arm geschnappt und immer erst nach der Familie und dem Beruf gefragt. Erst danach hat er einen auf den Gegner eingestellt.
Auch die Verbundenheit zu Ihrem Heimatverein ist groß gewesen.
Sicher. Ich wollte zunächst gar nicht vom SV Plüderhausen im Remstal weg. Ich hatte damals Mechaniker in Schwäbisch Gmünd gelernt und auch die dortige Normannia wollte mich holen. Dann kam die VfB-Delegation und hat gefragt, ob ich nicht nach Stuttgart kommen wolle. Nein, habe ich zuerst gesagt. Nach weiteren Gesprächen bin ich aber doch gegangen.
Und waren sehr erfolgreich.
Wir sind 1952 wieder Meister geworden und haben 1954 und 1958 den DFB-Pokal gewonnen. Dennoch war es anfangs nicht so einfach für mich. Plüderhausen hatte mich nicht gerade mit den besten Wünschen in die große Stadt verabschiedet und unter dem Trainer Fritz Teufel war es zu Beginn auch schwer. Erst nachdem Walter Luik ausfiel, kam ich in die Mannschaft.
Es wurden in 15 Jahren 354 Einsätze in der damals erstklassigen Oberliga für den VfB. Hat es Sie nie weggezogen?
Nein, woher. Obwohl es schon auch Angebote gab. Ich weiß noch, wie jemand von Waldhof Mannheim bereits das Handgeld in der Tasche hatte. 5000 Mark waren das. Aber ich wollte eben nicht weg.