Politik/Baden-Württemberg: Rüdiger Bäßler (rub)


Einige Angestellte dürften sich darüber gewundert haben, dass im Januar plötzlich Besucher mit Laborwerkzeug ins Haus kamen, die sich am Blockheizkraftwerk zu schaffen machten und Abstrichproben aus Rohren und Leitungen nahmen. Noch 30 weitere ähnliche Anlagen in Ulm und Neu-Ulm machten die Amtsprüfer ausfindig und zogen Proben, die eilig nach Dresden, zum Institut für medizinische Mikrobiologie und Hygiene, gefahren wurden. Neun der 30 Proben zeigten Legionellenbefunde.

Oben, in der Klinik am Ulmer Safranberg, extrahierten Heike von Baum und ihre Fachkollegen in detektivischer Arbeit aus dem Lungensekret von acht Erkrankten einen identischen Erreger. Es handelte sich um einen gefährlichen Bekannten mit sperrigem Namen: "Legionella Pneumophila Serogruppe 1 ST 62 Knoxville". Der genetische Fingerabdruck des seltenen, aggressiven Erregers passte zur Probe aus dem Telekom-Gebäude. Die Quelle des Ausbruchs war gefunden und wurde abgeschaltet. Die Ulmer Bevölkerung atmete nach einem Monat quälender Ungewissheit auf.

"Über Deutschland liegt ein Schleier der Deregulierung"


Martin Exner ist Direktor des Instituts für Hygiene und öffentliche Gesundheit sowie Geschäftsführender Direktor des Zentrums für Infektiologie und Infektionsschutz der Universität Bonn. Er ist überzeugt, dass ohne das zupackende Krisenmanagement in Ulm, ohne die Fachkompetenz an der dortigen Universität, noch mehr Menschen hätten sterben müssen.

Davon abgesehen ist nichts gut für den Bonner Professor. Die Folgen des Ulmer Ausbruchs waren noch nicht vollständig absehbar gewesen, da hatte Exner bereits in einem fingerdicken Memorandum, das er zusammen mit neun weiteren Experten aus dem ganzen Land verfasste, schwere Vorwürfe gegen die Politik erhoben.

Die Ulmer Todesfälle hätten nicht auftreten müssen, schrieben die Wissenschaftler, "wenn eine adäquate Gesetzgebung und Risikoregulierung in Deutschland zur Kontrolle von offenen Rückkühlwerken vorhanden wären". Gut ein Jahr später rückt Exner von seiner Kritik kein bisschen ab. "Über Deutschland liegt ein Schleier der Deregulierung und der Entbürokratisierung", sagt der Hygienespezialist. Seit der Auflösung des Bundesgesundheitsamts 1994 gebe es in Deutschland "keine Instanz mehr, die für öffentlichen Gesundheitsschutz zuständig ist".

In Ulm fehlte Verzeichnis industrieller Dachklimaanlagen


Die frühere Bundesoberbehörde für das öffentliche Gesundheitswesen wurde im Zuge des Skandals um HIV-verseuchte Blutkonserven im Herbst 1993 zerschlagen. Eine ganze Reihe von Infektionskatastrophen in europäischen Nachbarländern, mehrere davon ausgelöst durch Rückkühlwerke, hätten in den Bundesadministrationen über Jahre hinweg niemanden zum Handeln bewegt, sagt Exner. "Beim Bundesumweltamt hat man sich in einer falschen Sicherheit gewogen."

Die Behauptung ist durch das Bundesamt selbst belegt. Die Behörde äußerte sich beispielsweise in einer Mitteilung vom 3.September 2002, kurz nachdem neue Meldungen von Legionellenausbrüchen in Nachbarländern bekannt geworden waren, folgendermaßen: "Das Umweltbundesamt schätzt das Risiko einer Legionellenerkrankung in Deutschland eher gering ein. Dafür sorgt ein hoher technischer Standard bei Warmwassersystemen, Klimaanlagen und Bädern, der aber auf jeden Fall eingehalten werden sollte."

Hohe Standards? Großklimaanlagen sind bis heute weder gegenüber Landes-, noch Lokalbehörden genehmigungspflichtig. Ihr Bau und ihr Betrieb müssen nicht einmal angezeigt werden. In Ulm und Neu-Ulm fehlte, als die großen Tage der Angst anbrachen, jegliches Verzeichnis industrieller Dachklimaanlagen.

"Selbst Andorra und Malta sind weiter als wir"


Ein Hubschrauber musste aufsteigen, damit Luftbilder angefertigt werden konnten. Exner fordert seit 1987 öffentlich die Genehmigungspflicht und regelmäßige mikrobiologische Überprüfungen großer Kühlanlagen. Niemand hörte auf ihn. Dagegen existieren in zwölf europäischen Ländern, ganz im Einklang mit einer Empfehlung der Weltgesundheitsorganisation, entsprechende Gesetze zum Schutz der Allgemeinheit. "Selbst Andorra und Malta sind in dem Punkt weiter als wir", zürnt der Bonner Professor.