CDU und SPD laufen die Anhänger in Scharen davon. Ihre größte Stütze sind noch die älteren Wähler, doch die jüngeren vermissen zukunftsweisende Programme und Orientierung. Wie lange kann man da noch von Volksparteien reden?

Politik: Matthias Schiermeyer (ms)

Stuttgart - Viel ist von einer Denkzettelwahl die Rede. Doch wer meint, dass CDU und SPD in Hessen allein wegen der Streitereien in Berlin abgestraft wurden, macht es sich zu einfach. Vielmehr zeigen die Verluste von insgesamt 22 Prozent, dass die Volksparteien ihre Funktion als solche nicht mehr erfüllen. Der Trend deutet sich seit Langem bei den Sozialdemokraten in ganz Europa an. Jetzt erfasst er die Konservativen – und in Deutschland die CDU.

 

Muss man sich von diesem Etikett verabschieden oder steigen die Grünen zu einer Volkspartei auf? Noch fehlt ihnen dazu die starke Mitgliederbasis. Aber schon 70 Prozent aller hessischen Wähler wünschen sich die Ökopartei in der Bundesregierung. Und ebenso 70 Prozent zeigen sich unzufrieden mit der so genannten großen Koalition. Der Aufschwung der Grünen geht vor allem zu Lasten der SPD, die 104 000 Wähler an die Ökopartei verloren haben und in geringerem Umfang zu fast gleichen Teilen an AfD, CDU, Linke und FDP. Derweil haben die Christdemokraten gleichermaßen stark an Grüne (99 000) und AfD (96 000) abgegeben.

Die Anhängerschaft von CDU und SPD ist überaltert

Die traditionellen Milieus, aus denen die Stammwähler rekrutiert werden, lösen sich auf. Die Gesellschaft individualisiert sich, die Parteienlandschaft wird pluralistischer. In der Folge haben die Grünen mittlerweile die Konkurrenz in den Großstädten überholt. Laut der Forschungsgruppe Wahlen schreiben ihnen 69 Prozent aller Befragten zu, für eine „moderne, bürgerliche Politik“ zu stehen. Laut Infratest Dimap wiederum haben unter den jüngeren Frauen beispielsweise lediglich 13 Prozent CDU und 15 Prozent SPD gewählt – aber 37 Prozent die Grünen. Es ist, als würde die Zeit über Schwarze und Rote hinweggehen.

Allein die Älteren (und selbst diese immer weniger) stützen noch CDU und SPD. Andersherum betrachtet: Die Anhängerschaft der beiden Lager ist überaltert. Die CDU kommt laut Infratest Dimap bei den 18- bis 24-Jährigen auf 17 Prozent, bei den mindestens 70-Jährigen aber auf 42 Prozent – bei der SPD sind es 15 Prozent (bis 24 Jahre) und 28 Prozent (ab 70 Jahren). Volksparteien zeichnen sich durch programmatische Grundüberzeugungen auf, wie sich die Gesellschaft weiterentwickeln soll. Union und SPD sind in den Augen der Wähler jedoch austauschbar geworden. Sie geben ihrer Klientel keine Leitbilder mehr vor, sodass Grüne und AfD mit ihren klareren Standpunkten ins Auge fallen. Bedenklich für Volksparteien sind daher auch die hessischen Reaktionen auf die Frage der Wahlforscher von Infratest Dimap, welche Partei die besten Antworten auf die Themen der Zukunft hat. 33 Prozent sehen diese nirgends gut aufgehoben – 24 Prozent nennen die Grünen, aber nur 14 Prozent die CDU und 13 Prozent die SPD.

Keine Leitbilder mehr zur Orientierung

In der Bewertung der Bundesregierung wird neben der Zerstrittenheit und Selbstbeschäftigung vor allem die Rücksichtnahme auf die Industrie kritisiert. Gemeint ist vor allem die Autolobby, der weitere Lasten in der Dieselkrise erspart bleiben, aber auch die Rüstungsindustrie oder die Banken. Der Mangel an Standfestigkeit gegenüber der Wirtschaft fällt nun Union und SPD auf die Füße. Diese Erkenntnis sollte auch die großen Gewerkschaften IG Metall und IG BCE bekümmern, die für einen wirtschafts- wie arbeitnehmerfreundlichen Kurs stehen. Sie verkörpern die große Koalition. Im Ausgleich der großen Blöcke glauben sie, für sich am meisten herausholen zu können – die Grünen sind für sie kein wichtiger Partner. Damit haben sie die gesellschaftliche Mitte lange stabilisiert, aber nun geht der Einfluss auf die Mitglieder verloren – somit auch den Volksparteien.