Andreas Braun hat seine Klassen im Griff – obwohl er im Rollstuhl sitzt. Der Referendar ist einer von gerade mal drei Dutzend Lehrern in Baden-Württemberg, die ihren Schülern im Unterricht tatsächlich immer auf Augenhöhe begegnen müssen.

Rottenburg - Für Andreas Braun hat eine Mathestunde viel von Boxautofahren. Als der Referendar in die Klasse rollt, knallt er gegen einen Mülleimer, er kurvt an einer Plastikflasche vorbei und nimmt es gelassen, dass zwei Mädchen über seine Beine springen. Der Platz zwischen Rollstuhl und der ersten Tischreihe ist knapp.

 

„Setzt euch hin“, ruft Braun. Keiner der Achtklässler im Rottenburger Eugen-Bolz-Gymnasium hört zu. „Einer muss mal kurz die Leinwand runterlassen“, versucht es der Mathelehrer erneut und packt seinen Tablet-PC aus. Eine falsche Bewegung und das Kabel des Computers verheddert sich im Rad des Rollstuhls. Braun zupft es wie beiläufig zur Seite. Er kennt die Fallen.

Der Referendar ist einer von gerade mal drei Dutzend Lehrern in Baden-Württemberg, die ihren Schülern im Unterricht tatsächlich immer auf Augenhöhe begegnen müssen. Sie sind Rollstuhlfahrer, manche querschnittsgelähmt, wie der 31-jährige Andreas Braun. Die wenigsten von ihnen unterrichten an einer barrierefreien Schule. Viele Gebäude haben gerade mal einen Aufzug und eine behindertengerechte Toilette. Elektrische Türöffner, flache Rampen, niedrige Lichtschalter, Zugang zu allen Räumen – alles Posten auf einer Wunschliste, die lang ist. Baden-Württemberg muss sich ranhalten mit den Umbauten. Schließlich öffnen sich im Schuljahr 2014/15 auch im Südwesten der Republik die Regelschulen für Kinder mit körperlichen und geistigen Behinderungen. Dann wird die UN-Behindertenkonvention erfüllt, die seit 2009 in Deutschland gilt. Dann wird es bald mehr Rollis geben an den Schulen.

Freie Bahn für den Rolli

Der Lärmpegel in der 8 c sinkt mit jeder weiteren Bitte von Andreas Braun. „Könntest du mal den Beamer anschalten“, fragt er einen Jungen, der auf seinen Stuhl klettert und den Knopf des Projektors unter der Zimmerdecke drückt. „Komm bitte her, notier mal die Lösung der Hausaufgabe.“ Braun, die Haare zurückgegelt, die Stimme freundlich, bringt Ruhe in den Raum – ohne laut zu werden. Die Tafel hängt hoch, zu hoch für den Rollstuhlfahrer. Stattdessen schreiben er und die Schüler auf den Touchscreen eines Tablet-PC, der vorne auf einem Tisch liegt. Das geht schnell und ist gut lesbar. Auf der Leinwand in der Zimmerecke tauchen Mathegleichungen auf.

Ganz nah heran fährt Andreas Braun an seine Schüler. Er hangelt sich förmlich mit seinen langen Armen zwischen den Pulten hindurch. Stößt sich locker ab, legt die tellergroßen Hände, mit denen er früher oft Holz aus den familieneigenen Wäldern geholt hat, vor den Schülern auf den Tisch. Da traut sich keiner mehr zu quatschen. Da werden schnell die Rucksäcke weggezogen, um freie Bahn zu machen für den Rolli. Braun hat seine Klasse im Griff. „Der erklärt gut, ist fit und zuvorkommend“, lobt Gregor seinen Lehrer. „Und cool, dass der sich nicht runterziehen ließ von dem, was ihm passiert ist.“

Viel weiß Andreas Braun nicht mehr über jenen 3. September 2005, als im schwäbischen Wolfenhausen, einem Dorf hinter Rottenburg, weit nach Mitternacht die Sirene Alarm schlug und die freiwillige Feuerwehr ausrückte. Ein Fachwerkhaus brannte, die Bewohner waren verreist. „Ich habe mein Atemschutzgerät aufgesetzt und bin die Leiter hoch“, erzählt Braun und zeigt ein Foto aus der Unglücksnacht von dem Bauernhaus. Den Unfall hat er ausgeblendet, als hätte er nie stattgefunden. Von dem Sturz aus sieben Meter Höhe ließ er sich später erzählen. Sie zeigten ihm die tiefe Delle im Helm.

Das große Bildungsexperiment

Braun brachte nach langer Pause sein Lehramtsstudium in Tübingen zu Ende. Er will nicht mehr zurückblicken auf das Geschehene. „Das verdränge ich“, sagt er. Braun thematisiert auch nicht seine Behinderung im Unterricht. „Vor den Schülern rede ich nicht darüber, wie es mir im Rollstuhl geht“, sagt er. „Ich bin Pragmatiker.“

Anders sein ist normal am Eugen-Bolz-Gymnasium. Lange vor der Änderung des Schulgesetzes wagt die Rottenburger Schule das große Bildungsexperiment. Die Inklusion im Kleinen funktioniert. Im Foyer trifft Rollilehrer Braun auf Rollischüler Tobias Schreiner. Er wirkt erschöpft, er kommt gerade aus einer Prüfung. „Na, wie ist es gelaufen?“ „Habe acht Seiten geschrieben.“ Schon ist der 18-Jährige wieder weg, seinen Freunden hinterher.

Tobi und sein Rollstuhl gehören seit Jahren zum Bild der Schule. Anfangs hatte er im Sportunterricht oder auf Klassenfahrten Herrn Vogel an seiner Seite, einen Sonderpädagogen, der mit Tobi Sachen machte, die sich andere nicht trauten. Kajakfahren zum Beispiel. Später ging’s ohne Kooperationslehrer. Wenn es sein muss, steigt Tobi aus dem Rollstuhl und krabbelt in die oberste Etage des Schulhauses, in die kein Aufzug führt, oder auf den Sitz des Reisebusses, der die Klasse für ein paar Tage nach München brachte. Ganz selten lässt er sich auch mal tragen. Das mag er überhaupt nicht.

Inklusion zu welchem Preis?

Alle haben von Tobi gelernt: seine Eltern, dass ihr Kind zwar mit einem Geburtsfehler namens Spina bifida auf die Welt kam, also eine beschädigte Wirbelsäule hat, aber trotzdem glücklich sein kann. Die Mitschüler, dass es Spaß bringt, im Rollstuhl durch die Flure zu fahren und mit dem Kabel des Overheadprojektors mal den einen, mal den anderen an das Gefährt zu fesseln. Der Rektor, dass es durchaus klappt, das Haus für Körperbehinderte zu öffnen. „Tobias tut den Schülern gut, er tut uns allen gut“, sagt Rektor Horst Simscheck. Dieser hat sich für einen fast tauben Schüler mal verkabeln lassen. Ein tragbares Mikrofonsystem verband Lehrer und Schüler akustisch miteinander. Simscheck ist unerschrocken. Das braucht’s auch, um neue Wege zu gehen. Er hat am Gymnasium einen Autisten aufgenommen, der die Lehrer mit seiner Entwicklungsstörung immer wieder an ihre Grenzen bringt. Der raste manchmal aus, das gehe zu Lasten aller, sagt der Rektor. Die Eltern eines weiteren autistischen Kindes hätten auch schon angeklopft. Simscheck will dafür eine pädagogische Begleitung, mehr Personal – bisher ohne Erfolg. Die Inklusion, also die Abkehr vom bisherigen Aussortieren der Schüler in Regelschulen und Sonderschulen, ist Simscheck dennoch nicht geheuer. Wie soll das gehen mit geistig behinderten Kindern am Gymnasium, fragt er sich. Zu welchem Preis? Zu welchem Aufwand?

Das brauche Zeit, sagt Braun. Er erlebt, wie mühsam es selbst für Rollstuhlfahrer an Baden-Württembergs Schulen ist. In seiner Freizeit klappert er mit dem Auto die Gymnasien mit freien Stellen in der Umgebung ab. Er muss selbst herausfinden, wo er nach seinem Referendariat unterkommen könnte. „Da muss eine Liste für das ganze Land her, die auf einen Blick zeigt, welche Schulen barrierefrei sind.“ Die gibt es bislang nicht. Über eine unvollständige Aufzählung von Schulen mit Aufzügen ist das baden-württembergische Kultusministerium nicht hinausgekommen.

Ein Zehntel der Schulen hat einen Aufzug

Nur ein Bruchteil der gut 4000 Schulen hatten sich bei einer Erhebung im Jahr 2008 gemeldet. Ein Zehntel davon hat einen Aufzug – eine magere Bilanz. Daran änderte auch der lautstarke Protest der Landesschwerbehindertenvertreter in Stuttgart nichts. Sie mahnten immer wieder die Missstände an und wurden immer wieder vertröstet. Jahrzehntelang hat sich fast nichts bewegt.

Mit der Laptoptasche auf den Knien rollt Andreas Braun zu seinem umgebauten Auto, das innen vom Rollstuhl ganz verschrammt ist. Zusammengeklappt passt er auf den Beifahrersitz. Es sind nur ein paar Minuten bis nach Hause. Braun wohnt mit seinen Eltern in einem alten Bauernhaus. Er wohnt unten. Die Versicherung kam für den aufwendigen Umbau auf und finanzierte den Wagen.

Am Eugen-Bolz-Gymnasium werden es Rollstuhlfahrer künftig etwas leichter haben. Sie müssen zwar immer noch den Slalom im engen Lehrerzimmer auf sich nehmen und kräftig kurbeln, um die steile Rampe davor zu überwinden, aber bald soll ein Fluchtwegekonzept für den Brandfall entstehen, das Rollstuhlfahrer mit einschließt. Braun will es mit dem Sicherheitsbeauftragten noch durchplanen. „Bei der letzten Übung habe ich den Fahrstuhl genommen“, erzählt er grinsend. Fertig wird es , wenn Braun sein Referendariat beendet hat. „Das macht nichts“, beschwichtigt er wie so oft, denn Braun weiß, dass sich aufregen nichts bringt. „Hauptsache irgendwann wird es gemacht.“