Leichtathletik
Erika Sauer aus Warmbronn ist mit 46 Jahren wieder in den Sport eingestiegen und so etwas wie ein Naturwunder der Sportlichkeit. Seit vielen Jahren sammelt sie bei nationalen und internationalen Senioren-Meisterschaften Titel.

Leonberg - Sie ist fast so schnell wie die Feuerwehr. Schließlich trainiert Erika Sauer ihre Schnelligkeit oft an der Warmbronner Feuerwehrzufahrt. Das färbt wohl ab. Sauer ist 76 Jahre alt, vierfache Großmutter und seit einem Jahr sogar Urgroßmutter – auch wenn man das der braungelockten zierlichen Frau nicht abnehmen mag. Jüngst, bei den deutschen Meisterschaften in Leinefelde ist Erika Sauer 3,29 Meter gesprungen und die 100-Meter-Strecke in 17,76 Sekunden gerannt. Damit war sie in ihrer Altersklasse die Beste. Mal wieder.

 

Die Begeisterung für Sport hat bei ihr mit dem Turnen begonnen. Das 1940 in Zweibrücken geborene Bewegungstalent hat als Zwölfjährige damit angefangen und wurde mehrfach Pfalzmeisterin. Mit gerade mal 18 Jahren ist sie Mutter geworden. Schon wenige Monate nach der Geburt des Sohnes starb ihr Mann bei einem Motorradunfall. Ihre Eltern und der Sport halfen Erika Sauer über diese schwere Zeit hinweg. Bald erweiterte die junge Mutter ihr „Repertoire“ um leichtathletische Disziplinen und trat bei den vom Deutschen Turnerbund ausgetragenen gemischten Mehrkämpfen an, in denen sich die Sportler sowohl in Disziplinen des Geräteturnens als auch der Leichtathletik maßen.

Die Sportpause dauert 16 Jahre

Mit 24 Jahren war Erika Sauer Mutter eines Sechsjährigen, Gaujugend-Turnwartin, hatte den Übungsleiterschein in der Tasche und trainierte Turnerinnen in zwei Vereinen. Sie selbst war bis zum 27. Lebensjahr aktiv. 1963 verliebte sie sich beim Deutschen Turnfest in Essen und zog 1967 mit ihrem Mann und dem Sohn nach Böblingen, zwei Jahre später nach Warmbronn. Eine 16 Jahre währende Sportpause nahm ihren Anfang. Erika Sauer arbeitete in Warmbronn als Bankangestellte, 1972 wurde die Tochter geboren.

Erst mit 46 Jahren startete sie ihren Medaillen-Sammelmarathon erneut. „Weil es in Warmbronn keine Tartanbahn gegeben hat, bin ich nach Eltingen“, erzählt sie. Und sie nahm vier Kinder mit, die dort ebenfalls trainierten.

Ein Glücksfall, wie die Sportlerin meint, denn weil die Kinder sich sechs Jahre lang auf sie als Chauffeurin verließen, durfte sie nicht kneifen. „Bei denen heiße ich heute noch ‚Mama Sauer‘“, schmunzelt die Sportlerin, die schnell bei den Wettkämpfen wieder auf allen möglichen Stufen der Siegertreppchen landete. Und als 60-Jährige die Knochendichte einer 30-Jährigen hatte. 1988 war die Wahl-Warmbronnerin in Verona bei ihrer ersten Senioren-Europameisterschaft dabei und landete im Fünfkampf auf dem vierten Platz. Ein Jahr später, bei den Weltmeisterschaften in Eugene, USA, gab es die erste Bronze-Medaille über 80 Meter Hürden und im Dreisprung.

Bislang kommen fast 300 Medaillen zusammen

Zum ersten Mal Gold holte sich die quirlige Sportlerin 1990 in Budapest: Im Fünfkampf, über 300 Meter Hürden und im Weitsprung mit beachtlichen 4,89 Metern sowie auf der 80-Meter-Hürden-Strecke (14,52 Sekunden). Und so weiter und so fort. Bei fast 300 Medaillen kann man schon mal ein bisschen durcheinanderkommen und muss diverse Listen und Urkunde zu Rate ziehen. Da kann man dann nachlesen, dass Erika Sauer bis heute bei Europameisterschaften 61, bei Weltmeisterschaften 35 und bei deutschen Meisterschaften 52 Medaillen kassiert hat. Nicht zu vergessen die 20 Treppchenplätze bei süddeutschen und die 98 Platzierungen unter den ersten drei bei württembergischen Meisterschaften.

„Manche reisen, mein Hobby sind halt Sportwettkämpfe“, erklärt Sauer. Da genießt sie die Atmosphäre, die langjährigen Freundschaften mit anderen Sportlern und als ehrgeiziger Mensch auch ihre Siege. In den USA wurde sie schon um Autogramme gebeten, durfte mit einer Cessna und einem netten Sportkollegen über den Pazifik fliegen und einen Tag auf einer Pferderanch verbringen. Ein anderes Highlight, erzählt Sauer, sei für sie 2001 die WM im australischen Brisbane gewesen. Wie so häufig, schloss sie auch hier an die Wettkämpfe eine Reise an. „Den Sonnenuntergang am Ayers Rock werde ich wohl nie vergessen“, schwärmt sie.

Zu den absoluten Highlights ihrer Sportlerkarriere gehören die Jahre 2010 und 2011. Zweimal war sie zur „deutschen Senioren-Sportlerin des Jahres“ gekürt worden. Im kalifornischen Sacramento lieferte sie ein Jahr später bei der Weltmeisterschaft im Siebenkampf mit 5352 Punkten einen Weltrekord ab und kam mit sechsmal Gold nach Hause. „Wo hattest du da gerade noch versagt?“, fragt schmunzelnd ihr Mann Alois, der sich daran erinnert, dass sie 2010 bei der EM in Ungarn acht Mal Gold gewonnen hatte. Gekrönt wurden all ihre Erfolge 2012, als Sauer in Rom als „Europas beste Seniorensportlerin“ geehrt wurde.

Steigerung im Weitsprung und über die 100 Meter

Was die sportliche Urgroßmutter besonders freut und mit Stolz erfüllt, ist die Tatsache, dass sie sich im Vergleich zu Vorjahren auch jetzt noch manchmal verbessert: „In diesem Jahr war ich im Weitsprung und über die 100 Meter besser als 2014 und 2015“, erzählt sie. All das führt dazu, dass auch in Fachmagazinen über sie geschrieben wird. Sogar in einer Spiegel-Titelstory war sie abgebildet. Den Sieben- und den Fünfkampf hat Sauer inzwischen aufgegeben. „Ich starte nur noch in Einzeldisziplinen“, sagt sie. Ihr Mann hat ihre Ambitionen immer unterstützt. „Er macht auf dem Sportplatz oft die Grube locker, damit ich weich springe“, erzählt sie, „und hat auch schon mal den Schnee von der 400-Meter-Bahn weggeschaufelt.“ Auch in Zukunft will Erika Sauer nicht still sitzen.

Wenn sie gerade nicht trainiert, im Garten arbeitet oder mit dem Hund Gassi geht, dann ist sie bestimmt mit dem Enkel auf dem Spielplatz oder radelt durch den Ort. „Ich sitze nur beim Essen“, gesteht die Ruhelose. Was die nächsten Meisterschaften angeht, so macht sie es wie die Hochspringer und lässt manches aus: Die WM im australischen Perth geht heuer ohne sie über die Bühne, und auch die Hallen-WM in Südkorea 2017 lässt sie wegen der großen Entfernung ausfallen. Ihr 37. Sportabzeichen will sie dieses Jahr aber machen. Und bei der Sommer-EM im dänischen Aarhus 2017 an den Start gehen. Sie weiß: „Ohne Sport würde mir ganz viel fehlen.“