Lange hat der US-Amerikaner Ashton Eaton den Zehnkampf dominiert. Nach seinem Rücktritt herrscht in der Disziplin Aufbruchstimmung.

London - Noch immer beginnt der Zehnkampf mit dem 100-Meter-Sprint und dauert zwei Tage. Mit dem 1500-Meter-Lauf, nach dem die Athleten immer völlig entkräftet zu Boden sinken, geht die die Tortur auch weiterhin zu Ende. Und doch ist diesmal, bei der Leichtathletik-Weltmeisterschaft in London, alles ganz anders: Ashton Eaton ist nicht mehr dabei, der Dominator der jüngeren Vergangenheit, der beste Zehnkämpfer der Geschichte. „Ich habe noch nie ein solches mentales Monster gesehen. Er hat alles um sich herum platt gemacht. Ihm war keiner gewachsen“, sagt der Deutsche Rico Freimuth und klingt erleichtert.

 

Ashton Eaton hat die vergangenen beiden Weltmeisterschaften in Moskau und Peking und die Olympischen Spielen in London und Rio gewonnen. Den Weltrekord hat er auf sagenhafte 9045 Punkte verbessert. Fehlende sportliche Ziele gab der US-Amerikaner konsequenterweise als Grund für seinen Rücktritt an, den er Anfang dieses Jahres mit nur 28 verkündete. Der Thron ist also vakant, wenn an diesem Freitag der weltmeisterliche Zehnkampf im Londoner Olympiastadion beginnt – gesucht wird ein neuer König der Athleten.

Von Grund auf verändert haben sich die Machtverhältnisse und die Atmosphäre im internationalen Zehnkampflager. Dort ist plötzlich die große Goldgräberstimmung ausgebrochen, im wahrsten Sinne des Wortes. „Jeder, der schon einmal eine Medaille gewonnen hat, spürt, dass er jetzt theoretisch gewinnen kann“, sagt Rico Freimuth (29), „jeder will nach oben und weiß, dass dies nicht mehr unmöglich ist.“

Zwei Athleten gelten als natürliche Kronprinzen Eatons

Als natürliche Kronprinzen gelten vor allem zwei Männer: der Franzose Kévin Mayer (25), der bei den Olympischen Spielen mit einem neuen Landesrekord von 8834 Punkten (Rang sechs in der ewigen Bestenliste) Silber gewann. Und der Bronzemedaillengewinner von Rio und Vizeweltmeister von Peking, Damian Warner (27) aus Kanada. „Wenn beide bei der WM in Topform sind, kann der Weltrekord gebrochen werden“, sagte schon vor einigen Monaten Ashton Eaton höchstpersönlich: „Beide sind richtige Wettkampftypen.“

Damian Warner nahm Eatons Rücktritt zum Anlass, sich völlig neu aufzustellen. Er verließ schweren Herzens seine Heimat in Ontario, wo er von seinen früheren Highschool-Lehrern trainiert wurde, und zog zu einem Proficoach ins 3000 Kilometer entfernte Calgary, um strukturierter und zielgerichteter arbeiten zu können. Der Umzug habe ihn entscheidend weitergebracht, sagt er und fühlt sich nun „bereit wie nie“, den Weltmeistertitel zu holen.

Mit 8591 Punkten gewann der Kanadier Ende Mai das Traditionsmeeting in Götzis. Kévin Mayer hingegen verzichtete seit den Spielen in Rio darauf, einen Zehnkampf zu absolvieren. Er verbesserte dafür im März bei der Hallen-EM in Belgrad den Europarekord im Siebenkampf auf 6479 Punkte. Nur Ashton Eaton (6645) war in der Vergangenheit auch unter dem Hallendach noch besser. Die Filmrollen, die Mayer seit seinem Olympiacoup angeboten wurden, lehnte der französische Beau ab. Wichtiger ist ihm, den Zehnkampf-Thron zu besteigen. In London.

Der Deutsche Rico Freimuth verspürt neuen Rückenwind

Doch sind Mayer und Warner nicht die Einzigen, die berechtigte Ansprüche anmelden. Sie mögen als die Favoriten gelten – als Weltjahresbester aber tritt Rico Freimuth an. Auf 8663 Punkte kam der knapp zwei Meter große Modellathlet aus Halle Ende Juni bei seinem Sieg in Ratingen – persönliche Bestmarke. Neuen Rückenwind hatte auch er schon vorher verspürt, durch Eatons Rücktritt: „Ich habe mir gedacht: Alter, auch du kannst jetzt in London Weltmeister werden.“

Ausgeschlossen ist das nicht. Freimuth, Siebter der WM 2013, Bronzemedaillengewinner zwei Jahre später, hat sich konsequent weiterentwickelt. Er ist nach vielen Verletzungen körperlich stabiler geworden und hat erfolgreich an seinen Schwächen gearbeitet, den Sprungdisziplinen. Wie sich das anhöre: ein Zehnkampf-Weltmeister aus Deutschland?, wurde er vor der Reise nach London gefragt. „Klingt geil“, sagte er: „Warum nicht?“ Trotz der großen Zehnkampf-Tradition mit Athleten wie Jürgen Hingsen, Siegfried Wentz oder Frank Busemann – der bislang einzige deutsche Weltmeister ist Torsten Voss, der vor 30 Jahren im DDR-Trikot Gold gewann.

Zumindest als Medaillenkandidat gilt in London neben Rico Freimuth auch Kai Kazmirek. Die große Stärke des 26-Jährigen ist es, dass er bislang immer im entscheidenden Moment seine stärksten Leistungen zeigte. Mit einer persönlichen Bestmarke von 8580 Punkten wurde Kazmirek in Rio Vierter. Ein mittleres Wunder hingegen wäre es, wenn der Ulmer Mathias Brugger (25/Bestleistung 8294 Punkte) vorne mitmischen könnte – auch wenn Ashton Eaton nur noch Zuschauer ist. www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.leichtathletik-wm-in-london-hochsprung-ass-jungfleisch-im-wm-finale.d3bab045-9efc-4e72-8f9b-ce0628d11964.html www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.leichtathletik-wm-in-london-das-sind-die-athleten-aus-baden-wuerttemberg.d9633d67-9646-4d9e-ba50-9b8c0bfd0626.html