Ernst Kühnle aus Filderstadt hat sich ins Tagebuch einer jüdischen Schülerin eingearbeitet. Dieses entstand Mitte der 1930er Jahre. Mit seiner Aufarbeitung hat der pensionierte Geschichtslehrer nun einen Preis gewonnen.

Stetten - Das Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst vergibt in Zusammenarbeit mit dem Landesausschuss Heimatpflege seit 1982 den Landespreis für Heimatforschung Baden-Württemberg. Damit sollen die beispielhaften Leistungen ehrenamtlich tätiger Heimatforscher gewürdigt werden. Ende November sind sechs Forschungsarbeiten zu lokalgeschichtlichen Themen ausgezeichnet worden. Die prämierten Arbeiten wurden aus 97 eingereichten Bewerbungen von einer unabhängigen Jury ausgewählt. Darunter ein Mann aus Stetten.

 

Ernst Kühnle hat einen zweiten Preis erhalten. Prämiert wurde seine kommentierte Edition eines Tagebuchs (1935/36) der jüdischen Schülerin Marta Goldschmidt. Die damals 16-jährige Schülerin besuchte zu der Zeit das heutige Georgii-Gymnasium in Esslingen. Im September 1936 musste die junge Frau in Folge der Nürnberger Rassengesetze abrupt die Schule verlassen. Marta Goldschmidt schreibt: „Von der Schule abgemeldet. Ich werde daheim den Haushalt führen.“ Nach diesem Eintrag zeichnet Marta Goldschmidt einen dicken, schwarzen Balken in ihr Tagebuch. Er spiegelt die folgenschwere Zäsur im Leben der jungen Frau wider. Der Familie gelang schließlich noch rechtzeitig die Flucht nach Brasilien. Nüchtern, oft stichwortartig, klar und beherrscht dokumentiert die gebürtige Esslingerin Marta Goldschmidt in ihren Tagebucheinträgen ihren Abschied aus der deutschen Heimat. Erst nach ihrem Tod im Jahr 1998 entdeckten Marta Goldschmidts (verheiratete Neuhaus) Kinder das Tagebuch in ihrem Nachlass. Ernst Kühnle war 2013 im Zusammenhang mit einer Stolpersteinverlegung für Marta und ihren Bruder Leopold auf dem Schulhof des Georgii-Gymnasiums auf das Tagebuch gestoßen. Der pensionierte Geschichtslehrer hat selbst 36 Jahre lang am Georgii-Gymnasium unterrichtet.

Durch Zufall auf das Tagebuch gestoßen

Paulo Neuhaus, Marta Goldschmidts Sohn, der in den USA lebt, hatte an der Stolpersteinverlegung teilgenommen und Ernst Kühnle von der Existenz des Tagebuchs erzählt. Neuhaus konnte das Tagebuch, welches in Sütterlinschrift verfasst wurde, nicht entziffern und vertraute die Dokumente Ernst Kühnle an. „Das Tagebuch ist ein bislang unbekanntes, seltenes und sehr kostbares Zeugnis zur Esslinger Zeitgeschichte und ein kleiner Beitrag zur Mentalitätsgeschichte jüdischer Jugendlicher während der sich festigenden nationalsozialistischen Diktatur“, sagt Kühnle. Es habe ihn sehr beeindruckt, mit welch starkem Lebenswillen und ungebrochenem Optimismus Marta Goldschmidt trotz der widrigen Umstände ihren Lebensweg gegangen sei. Ihr Abschied aus Deutschland gleiche einer intellektuellen Bildungsreise. „Sie klagt nie und lässt sich nicht unterkriegen“, so Kühnle. Für ihn sei die Arbeit an dem zeitgeschichtlichen Dokument eine wahre Herausforderung gewesen, berichtet Ernst Kühnle. „Ich musste für meine Nachforschungen viel reisen und habe unzählige Stunden in Archiven verbracht“, sagt Kühnle, der sich auch im Geschichtsverein Leinfelden-Echterdingen engagiert. Mit der Aufarbeitung der Tagebucheinträge möchte Ernst Kühnle die Erinnerung an das dunkle Kapitel der deutschen Geschichte wach halten. „Es geht nicht um ein Schuldeingeständnis. Damit so etwas Schreckliches aber nie wieder passiert, muss es immer wieder erzählt werden“, betont Ernst Kühnle.

Das Buch:

Ernst Kühnles Arbeit ist 2015 unter dem Titel „Das Esslinger Tagebuch der jüdischen Schülerin Marta Goldschmidt (1935/36)“ im 48. Band der Esslinger Studien erschienen. Die insgesamt sieben Beiträge behandeln ein weites Spektrum der Esslinger Geschichte von der Eisenzeit bis in das 20. Jahrhundert. Das Buch ist für 15 Euro im Stadtarchiv Esslingen und bei der Stadtmarketing- und Tourismus GmbH erhältlich.