Autoren wie Martin Walser haben Erfahrung mit alternativen Fakten: nie waren sie so wichtig, wie in Zeiten, in denen die Lüge die Politik erobert, kommentiert Stefan Kister.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Schwierige Zeiten sind Hochzeiten für Intellektuelle. Auch bei der eben eröffneten Leipziger Buchmesse, diesem Tummelplatz für kritische Freigeister, wird sich kaum jemand finden, der etwa frei nach einem Diktum des Intellektuellen-Stammvaters Karl Kraus von 1933 sagen würde: Zu Trump fällt mir nichts mehr ein. Zu ihm weiß jeder etwas zu sagen, was in diesem speziellen Fall auch daran liegen mag, dass der amerikanische Präsident in einen Bereich vordringt, wo die Literaten bisher unangefochten das Sagen hatten.

 

Denn was sind Romane, Erzählungen, Gedichte anderes als alternative Fakten, Erzeugnisse, die ihre eigene Wahrheit der Wirklichkeit entgegenstellen. Gerade darin freilich liegt ihre kritische, heilsame Kraft, dass sie sich nicht mit der Wirklichkeit verwechseln. Wie umgekehrt die mit präsidialer Autorität munter ins Blaue karnickelten oder getwitterten Erfindungen das Zeug haben, die Welt, wie wir sie zu kennen glauben, in ein wüstes Schauermärchen zu verwandeln.

Dichter haben in Regierungsämtern nichts verloren, das wusste schon der griechische Philosoph Platon, weshalb er das notorisch lügende Volk aus seinem Idealstaat wies. Doch nichts ist ohne sein Gegenteil wahr. Seit Émile Zolas „Ich klage an“ gehört das Bild vom Schriftsteller, der das Gewissen einer Nation repräsentiert, zu den lieb gewordenen Wunschvorstellungen einer Öffentlichkeit, die offenbar selbst gewissenlos genug ist, um immer jemanden als personifiziertes Gewissen zu brauchen. Niemand wüsste das besser als der Schriftsteller Martin Walser, der just in diesen Messezeiten am Freitag seinen neunzigsten Geburtstag feiert. Pünktlich zum Jubiläum erscheinen unter dem Titel „Ewig aktuell“ seine versammelten Einlassungen zum Zeitgeschehen.

Zuhause allein in der Sprache

Der Protest gegen den Vietnamkrieg, der Deutsche Herbst, die Wiedervereinigung und über allem immer wieder Auschwitz – wie in einem Zauberspiegel überlagert sich in dem Band die Geschichte der Bundesrepublik mit der intellektuellen Biografie des Autors. Wer mit dem politischen Redner Walser nur noch den 1998 in der Paulskirche losgetretenen Streit über deutsche Gedenkkultur verbindet, der mehr mit einer Eigendynamik des Missverstehens als anstößigen Thesen zu tun hatte, erlebt hier einen wachen Beobachter, der wacker gegen das hält, was die Spatzen des Zeitgeists von den Dächern pfeifen.

Nicht nur seines fortgeschrittenen Alters wegen kann man sich Walser als Twitterer schlechterdings nicht vorstellen. Freilich musste er die tiefe Skepsis gegenüber kollektiven Meinungsfronten damit bezahlen, von einer Seite des Spektrums zur anderen durchgereicht zu werden, von ganz links nach ganz rechts, ohne je an einem dieser Orte zu Hause zu sein.

Wirklich zu Hause ist Walser allein in der Sprache. Seine Glaubwürdigkeit ist ästhetisch vermittelt. Wie er in seinen Romanen mit einer ans Manische grenzenden Schreibwut Geschehenes so lange umzuerzählen weiß, bis es erträglich wird, so haben seine politischen Interventionen unsere Gesellschaft zu einem besseren Ort gemacht. „Die Sprache ist auch ein Vorrat gelungener Geschichte“, heißt es bei ihm einmal, nichts verrate Diktaturen so sehr wie dass sie die Sprache kommandieren wollen.

Dabei liegt die Bedeutung dieser aus gegebenen Anlässen formulierten Einreden gar nicht so sehr da, wo er recht hatte. Sie nährt sich vielmehr aus dem Mut und der Beharrlichkeit, die Wahrheit als eine Sache der inneren Stimme und nicht auferlegter Redeweisen zu erfahren. In dem Roman „Finks Krieg“ steht der Satz: „Wenn man von etwas nicht auch das Gegenteil sagt, sagt man nur die Hälfte.“ Es ist Walsers Lebensmotto. Mit ihm mag man sich in diesen stürmischen Zeiten wappnen: gegen allzu geläufige Gewissheiten ebenso wie gegen eklatante Lügen.