Was tun wir unseren Kindern an? "Oft nichts Gutes", sagt Marie-Luise Hepp, Fachärztin für Kinder- und Jugenpsychiatrie.

Ludwigsburg - Es ist wieder einer dieser ganz normalen Werktage in der Mitte der Gesellschaft. Wie immer verbringt ihn Marie-Luise Hepp mit Kindern, die so gute Startchancen haben wie keine Generation vor ihnen. Voller Kleiderschrank, volles Kinderzimmer, voller Kühlschrank. Die Kleinen werden von Eltern zur Sprechstunde gebracht, denen nichts zu teuer ist für die Karriere ihrer Söhne und Töchter, die mindestens so erfolgreich werden sollen wie sie. Marie-Luise Hepp zieht den Vorhang zur Spielecke in ihrer Ludwigsburger Praxis zu. "Für Eltern verboten", heißt es an der hölzernen Pforte. Was sie dahinter erfährt, passt nicht recht zum aufgehübschten Bild der Wohlstandskinder und schon gar nicht zu den politischen Hochglanzprospekten im Kinderland Baden-Württemberg, in denen so manches steht über Bildungschancen, aber nichts über Bildungspanik.

Heute war Elena in der Praxis, die sich blutig ritzt. Danach kamen Jens, der mit 13 ein "Burn-out" hat, und Aynur, die aus Angst vor der Schule fast jeden Morgen spuckt. Jetzt wartet eine Mutter draußen. Sie hofft, dass Frau Doktor bei ihrem Sohn tief drinnen an den Stellschrauben des Ichs dreht, damit er wieder ins innere Gleichgewicht kommt und besser in der Schule wird. Frau Hepp geht es sacht an. Sie hat einen Sandkasten im Sprechzimmer. Dort gräbt sie mit dem Jungen. Sie suchen nach dem, was man nicht sehen, aber fühlen kann. Es gibt eine ganze Menge "Unsichtbares" im deutschen Bildungswesen. Die Politik hat die Brisanz dieses Themas erkannt. Es könnte Wahlen entscheiden. Wütende Eltern gehen auf die Straße. Andere suchen ihr Glück in Privatschulen, die einen Rekordandrang verzeichnen, oder werden gleich selbst zum Hilfslehrer.

Vierzig Prozent der Väter und Mütter helfen ihren Kindern regelmäßig bei den Hausaufgaben. Manche fühlen sich unwohl dabei, bis sie feststellen, dass es ihre Nachbarn genauso machen. Zunehmend verlagern sich schulische Inhalte in die Elternhäuser. Sonntags wird in vielen Wohnstuben gelernt. Zusatzunterricht statt Muße. Wer nicht selbst mit dem Filius paukt, hilft anders nach. Fast zwei Milliarden geben deutsche Eltern jährlich für Nachhilfe und Lernsoftware aus. Leider reicht auch das Eintrichtern oft nicht, um die "Rücksitzgeneration" nach vorne zu bringen. In solchen Fällen liegt der Griff nach Präparaten nahe, puschende und beruhigende: Doping, über das man nicht gerne spricht. Vielleicht deshalb, weil es nicht etwa Kinder aus verarmten Elternhäusern oder sozial schwierigen Verhältnissen sind, die damit behandelt werden, sondern vor allem Schüler aus wohlhabenderen Familien, denen es scheinbar an nichts mangelt.

Kinderpsychiater wie Marie-Luise Hepp stellen diesen Trend seit längerem fest. Die Frau, zu der Patienten aus der ganzen Region kommen, ist eine Art Seismograf für erziehungsbedingte Erschütterungen. Was die Nachfrage nach Medikamenten für Kinder betrifft, gibt es für sie kein Vertun: "Das hat bei uns massiv zugenommen." Frau Hepp sagt, dass immer mehr Kinder von Erwachsenen zu ihr geschickt werden, welche sich zu Diagnosen wie Hyperaktivität berufen fühlen. "Darf es auch etwas anderes sein", fragt sie in solchen Fällen gerne mit ironischem Unterton, bevor sie sich ihr eigenes Bild macht. ADHS-Syndrom? Manche der vermeintlichen Patienten haben allenfalls einen intensiven Bewegungsdrang, den sie jedoch kaum noch ausleben können in einem Alltag, auf dem wachsender Druck lastet, welcher von Erwachsenen erzeugt wird, die selbst unter Druck stehen und deshalb zu Drückern werden – zu Wegdrückern. Wenn es darum geht, was Kindern auf der Seele brennt, wird die Schuld gerne in Lehrplänen gesucht, selten aber in eigenen Lebensplänen. In der Verzweiflung hilft manchmal auch eine ärztliche Diagnose. Dann übernehmen andere die Verantwortung.

Am Ende steht ein Befund, das "Ich weiß jetzt warum"-Syndrom, welches von Fachleuten kuriert wird, die sich auf die Reparatur von Seelen verstehen. Nur an sich selbst repariert der erwachsene Mensch nicht so gerne. Dabei wäre es dringend geboten. Jedes fünfte Kind in Deutschland leidet unter Phobien und Panikattacken. Seit 1990 hat sich die Zahl der Kinder- und Jugendlichen, die in einer psychiatrischen Klinik behandelt wurden, im Südwesten verdreifacht. Fast 18 Prozent der Jungen und zwölf Prozent der Mädchen gelten laut einer Studie des Robert-Koch-Instituts als verhaltensauffällig oder emotional belastet. Tendenz steigend. Die Befundmappen der Kinderpsychologen, die immer weniger werden, obwohl die Zahl der Betroffenen rasant steigt, bilden diese Entwicklung ebenso ab wie die Statistiken des Kinderschutzbunds in Stuttgart. Fast pausenlos klingelt dort das Kinder- und Jugendtelefon. Am anderen Ende der Leitungen sitzen junge Menschen, "die sich abgehängt fühlen", wie Uwe Bodmer vom Telefondienst berichtet.