Europa behandelt Ägyptens wiedergewählten Präsidenten al-Sisi viel zu höflich, meint Martin Gehlen. Dessen repressiver Militärstaat brüte immer mehr Frustration und Extremismus aus.

Kairo - Ägypten hat gewählt, ohne eine Wahl zu haben. Drei Tage dauerte das zynische Spektakel am Nil, dann hatte Ex-Feldmarschall Abdel Fattah al-Sisi seine zweite Amtszeit unter Dach und Fach. Die überwiegende Mehrheit seiner Untertanen hielt sich fern, einen echten Gegenkandidaten gab es nicht. Auf dem Stimmzettel stand lediglich ein obskurer Strohmann, um dem düsteren Machtmanöver einen etwas helleren Anstrich zu geben. Und so geht al-Sisis Militärdiktatur unangefochten in ihre nächste Runde.

 

Etwa 60 000 politische Gefangene, 15 000 Prozesse vor Militärgerichten, Folterverhöre und endlose Untersuchungshaft prägen den autoritären Normalzustand Ägyptens genauso wie ein Regime, das alle Verbrechen unverfroren leugnet. Angefangen bei Staatschef al-Sisi selbst, der Monate vor der Wahl alle potenziellen Mitbewerber verhaften oder einschüchtern ließ, um dann zu heucheln, er habe sich wirkliche Konkurrenz gewünscht.

Der Arabische Frühling ist für al-Sisi nur ein peinlicher Betriebsunfall

Mit der Wirklichkeit hat diese pseudo-liberale Rhetorik nichts zu tun. Den Machthabern am Nil ist jegliche politische Pluralität suspekt. Für ihr Machtkartell war der Arabische Frühling, dieser weltweit gefeierte Überraschungssieg der Zivilgesellschaft, ein peinlicher Betriebsunfall, der sich keinesfalls wiederholen darf. Daher wird, da nun die ersten vier al-Sisi-Jahre vorüber sind, das ihm ergebene Parlament schon bald die nächste Machtkonzentration herbeijubeln – erst dessen vierjährige Amtszeit auf sechs Jahre verlängern und dann das Zeitlimit der Verfassung für den Präsidenten komplett abschaffen. Parallel dazu wird sich das Regime die noch verbliebenen Reste der Zivilgesellschaft vorknöpfen, die Internetüberwachung perfektionieren und die bereits angelaufene Hetzkampagne gegen ausländische Medien voll entfachen. Danach wird Ägyptens autoritäres Staatssystem wieder voll etabliert sein – härter und skrupelloser als je zuvor.

Der Machthaber baut seine Strategie der eisernen Faust aus

Politische Agonie und extreme Repression jedoch sind nicht die einzigen Krisenfaktoren. Genauso brisant sind das Bevölkerungswachstum und die virulente Terrorgefahr. Jedes Jahr drängen zwei Millionen Menschen mehr in das enge Niltal, das etwa eine Fläche wie Bayern hat. Allein seit dem Arabischen Frühling sind 16 Millionen Ägypter hinzugekommen – das sind fast so viele Einwohner wie von Österreich und der Schweiz zusammen. Mit einer derartigen Demografie kann kein Staat mithalten.

Ähnlich ratlos wie bei der Bevölkerungsexplosion wirkt das Regime beim Kampf gegen den „Islamischen Staat“. Im Februar ließ al-Sisi den Nordsinai abriegeln und setzte eine ganze Armee in Marsch zum angeblich entscheidenden Schlag gegen die Dschihadisten. Seither brüstet sich der Generalstab mit Erfolgsmeldungen, die niemand überprüfen kann. Dennoch wurde die Operation jetzt um drei Monate verlängert – Indiz dafür, dass al-Sisis Strategie der eisernen Faust das Dschihadisten-Problem eher vergrößert als reduziert.

Der Militärstaat brütet immer mehr Extremismus aus

Deutschland und Europa aber stellt Ägyptens unbeirrter Kurs in Richtung Militärdiktatur vor ein wachsendes Dilemma. Bisher gingen die westlichen Regierungschefs mit Sisis Machtgebaren und Menschenverachtung eher nachsichtig um. Solange Kairo seine potenziellen Flüchtlinge an der Mittelmeerküste in Schach hält und kräftig Waffen einkauft, so lautete offenbar das Kalkül, lässt man dem Ex-Feldmarschall freie Hand. Dabei weiß man in Europas Hauptstädten nur zu genau, wie kurzsichtig diese Nachsicht gegenüber dem ägyptischen Diktator ist. Denn dessen repressiver Militärstaat brütet immer mehr Frustration und Extremismus aus, die sich eines Tages in einem zweiten Volksaufstand und diesmal auch in einem Kollaps des Staates entladen könnten. Dann bekommt Europa die wahre Rechnung – für seine Leisetreterei und seine gewissenlosen Rüstungsgeschäfte.