Das neunzehnte Jahrhundert, das Zeitalter des Nationalismus, war in diesem Unterfangen besonders rigide. Es wurde von Attila über Karl den Großen bis hin zu Bismarck, weit über die Grenzen der Geschichtsklitterung hinaus, alles für eine "deutsche Geschichte" zurechtgedeutet, was sich irgendwie vereinnahmen ließ. So entstand der nationale Mythos. Er betrachtete die historischen Ereignisse, als ob sie unaufhaltsam auf ein Ziel zugelaufen wären. Dieses Ziel war die Nation. Schriftsteller wie Felix Dahn ("Ein Kampf um Rom") haben diese Mythen populär gemacht, so populär, dass sie noch heute ihre Wirkmacht zeigen. Aus einer solchen Position heraus kann Europa dann nur als ein "Europa der Nationen" gedacht werden.

In Europas Kernländern haben wir uns nach dem Zusammenbruch nationaler Politikmodelle nach den zwei Weltkriegen von der allzu scharfen Abgrenzung des neunzehnten Jahrhunderts entfernt. Wir sind zunehmend bereit, das Fließende einer nationalen Identität zu akzeptieren. An den Rändern des Kontinents, in Russland und auf dem Balkan, ist der Nationalismus dagegen noch gegenwärtig. Selbst in Mitteleuropa kehrt er gelegentlich zurück, wie die jüngsten Entwicklungen in Ungarn belegen.

Geschichte Europas lässt sich als gemeinsame Geschichte lesen


Wer sich von den Schablonen der nationalen Interpretation löst, wird feststellen, dass sich jede Geschichte auch anders erzählen lässt - und damit jede Identität anders konstruieren. Verschiedentlich ist das geschehen, nämlich überall dort, wo die Herrschenden und ihre Interpretationsraster wechselten, zum Beispiel im Elsass. Der britisch-amerikanische Nationalismusforscher Benedict Anderson sieht deshalb in Nationen "eingebildete Gemeinschaften". Damit soll nicht gesagt werden, dass diese Gemeinschaften nicht real seien. Sie sind es im Gegenteil auf brutale Weise und haben bereits eine Menge Unheil angerichtet. Aber die Gemeinschaften haben sich durch eine gemeinsame Einbildung, nämlich durch ihr nationales Bewusstsein, erst gebildet und werden davon zusammengehalten.

Wenn es aber die Einbildung ist, die politische Einheiten wie den Nationalstaat zusammenhält, dann können wir uns auch die Geschichte eines sich vereinigenden Europas einbilden. Wir müssen dafür nur die richtigen Geschichtenerzähler finden. Das Potenzial ist vorhanden. Was die Amerikaner in den Vereinigten Staaten geschafft haben, indem sie durch eine gemeinsame Deutung von Ereignissen und Werten die verschiedenen Einwanderergruppen zu einer Nation zusammengeschweißt haben, das kann auch Europa gelingen. Die Geschichte Europas lässt sich ja in der Tat ohne große Verrenkungen als gemeinsame europäische Geschichte lesen.