Der Fundus, aus dem die europäische Erzählung schöpfen kann, ist gewaltig. Die Europäer teilen vielerlei: die antike griechische Philosophie und das römische Erbe, das Christentum und die Emanzipation erst des Staates, dann der Gesellschaft gegenüber der Religion, die Renaissance und die Entdeckung des Individuums, die Aufklärung und das Primat des Verstandes. Es geht nicht nur darum, die sich daraus entwickelnden Werte der Moderne wie Freiheit des Individuums und Rechtsstaatlichkeit zu teilen, sondern auch darum, einen Platz zu finden in der gemeinsamen Erzählung, die zur Herausbildung dieser Werte geführt hat. Denn Europa ist mehr als nur eine Wertegemeinschaft.

Der Integration von Türken steht prinzipiell nichts im Wege


Deshalb tun wir uns so schwer damit, die Türkei in Europa zu integrieren - ein solches Vorhaben würde die gemeinsame europäische Erzählung überdehnen, selbst wenn wir eingestehen müssen, dass Teile der europäischen Identität nur durch Vermittlung aus dem islamischen Kulturkreis entstehen konnten. Ohne den persischen Gelehrten Avicenna und den persischen Philosophen Averroes hätte das mittelalterliche Europa Aristoteles nicht wiederentdeckt. Weswegen der Integration von Türken, die bei uns leben - anders als der europäischen Einbeziehung des Staates Türkei - prinzipiell auch nichts im Wege steht.

Die konservativen Verfechter der nationalen Identität irren sich. Das deutsche, französische oder dänische Nationalbewusstsein sind nicht die Endpunkte unserer Geschichte, die eine europäische Identität unmöglich machen würden. Wir alle arbeiten schon längst an einer europäischen Erzählung unserer Geschichte. Der Druck von außen, vor allem die Abgrenzung gegenüber Asien, werden diesen Prozess rasch vorantreiben.

Als 1870 der italienische Nationalstaat verwirklicht wurde, sprachen ein Sizilianer und ein Mailänder unterschiedliche Sprachen. Und ein Florentiner lernte die Geschichte anders als ein Bewohner der Abruzzen. Damals rief der Politiker und spätere Premierminister Massimo d'Azeglio in der Nationalversammlung aus: "Italien haben wir geschaffen. Jetzt müssen wir Italiener schaffen." Im 21. Jahrhundert heißt es: Europa haben wir geschaffen. Schaffen wir jetzt Europäer!