Der Arzt Karl-Horst Marquart beleuchtet in einem Vortrag in der Bibliothek der KZ-Gedenkstätteninitiative Leonberg die Schrecken der NS-Kindereuthanasie.

Leonberg - Als der Stuttgarter Arzt Karl-Horst Marquart zum ersten Mal von der „Kinderfachabteilung“ im Stuttgarter Kinderkrankenhaus berichtete, habe er Unglauben ausgelöst, sagte er bei seinem Vortrag der der KZ-Gedenkstätteninitiative im Samariterstift. Von 1939 bis 1945 wurde diese Station zur Beseitigung „unwerten“ Lebens, also zur Ermordung von missgebildeten und behinderten Kindern unterhalten, eifrig unterstützt von Ärzten wie dem Klinikleiter Lempp und seiner Assistenzärztin Schütte. Um eine Gedenktafel an der ehemaligen Kinderklinik in der heutigen Türlenstraße anbringen zu können, musste Marquart dem Stuttgarter Bürgermeister Werner Wölfle eindeutige Beweise vorlegen – so gerne würde heute noch der Mantel des Vergessens ausgebreitet, so unangemessen erscheint noch heute die Idee von einer geheimen Tötungsstation.

 

Doch was dort und in 30 weiteren „Kinderfachabteilungen“ im „Dritten Reich“ vor mehr als 70 Jahren geschehen ist, wirkt bis heute auf die Familien dieser Kinder, wie die vielen Fragen, die Lebensgeschichten und der auch heute noch aktuelle Wunsch nach absoluter Anonymität bei vielen betroffenen Familien, wie sich bei Marquarts Vortrag am Sonntagnachmittag zeigt.

Betroffene, die gerade noch davongekommen sind, sind unter der Zuhörern

Während sich der Saal im Samariterstift füllt, erzählt eine ältere Dame leise von einer Verwandten, die nur durch die konsequente Haltung der gesamten Familie davor bewahrt blieb, in eine dieser „Kinderfachabteilungen“ verschleppt zu werden. Sie ist gespannt auf den Vortrag von Karl-Horst Marquart und erhofft sich Hinweise, wo sie mehr Informationen über die damaligen Geschehnisse finden kann. Konkret würde sie gerne wissen, wie denn die Ärzte in den „Kinderfachabteilungen“ über die behinderten Kinder informiert wurden. „Irgendjemand muss das den Behörden ja angezeigt haben, wie sollen die in Berlin sonst von den Kindern gewusst haben“, sagt sie.

Dieses Rätsel zu lösen, ist so einfach wie traurig: Willige Helfer waren Hebammen, Gesundheitsämter, Ärzte, Medizinalbeamte in Ministerien, und auch aus dem unmittelbaren Umfeld können Denunzianten nicht ausgeschlossen werden: „Die Mutter von Gerda Metzger hat immer vermutet, dass ihr Kind von jemandem aus dem Ort angezeigt worden ist“, meldet sich eine Weissacherin zu Wort. Gerda Metzger, erzählt Marquart, war ein Flachter Mädchen mit leichter körperlicher und geistiger Behinderung, das ihrer Mutter ohne Vorwarnung brutal entrissen und binnen zweier Tage in der Kinderfachabteilung getötet wurde. Da war sie vier Jahre alt. Ihr ist der erste Stuttgarter Stolperstein für die Opfer der Kindereuthanasie gewidmet, eine Gedenktafel aus Messing im Trottoir.

Eine Frage des Vorsitzenden der Initiative Holger Korsten sorgt für aufmerksame Gesichter: „Gab es auch Eltern, die die Tötung ihres Kindes als richtig empfunden haben?“ In Nazi-Deutschland eine berechtigte Frage. Und ja, einen solchen Fall hat Marquart entdeckt. Doch in fast allen Fällen wurden die Eltern damit geködert, dass ihre Kinder in den Genuss spezieller Therapien zur Verbesserung ihres Leidens kommen sollten – „Behandlung empfohlen“ auf der ärztlichen Beurteilung suggerierte den Eltern, dass Besserung möglich wäre. Und war doch nichts weiter als der Code für die Ermordung des Kindes.

Eltern, vor allem alleinerziehende Mütter, wurden gnadenlos unter Druck gesetzt. So lange, bis sie zustimmten, ihr Kind für eine gewisse Zeit in Behandlung zu geben. Oder bis das Kind zwangsweise abgeholt wurde. Von 1939 bis 1943 sind rund 260 Fälle von Euthanasie in der Stuttgarter Kinderfachabteilung verbrieft, danach fehlen die Aufzeichnungen.

„Ab wann ist ein Leben als unwert eingestuft worden?“

Der ehemalige Münchinger Gemeindediakon Walter Großmann meldet sich zu Wort, er ist zum ersten Mal hier. Er will wissen, wo die Grenze verlief – ab wann ist ein Leben als „unwert“ eingestuft worden? „Die Grenze war fließend“, weiß Marquart. Großmann erzählt von einer gehörlosen Frau in seiner Gemeinde. Sie ist im Dritten Reich Opfer einer Zwangsabtreibung geworden – ihre Taubheit, obwohl nicht von Geburt an, sondern später erfolgt, war für die NS-Mediziner Grund genug, ein eventuell „unwertes“ Leben vorher abzubrechen. „Zwangsabtreibungen, Zwangssterilisation auch bei Kindern“, Marquart holt tief Luft, „bei Kindern bis zum zehnten Lebensjahr, noch vor der Pubertät, waren gebräuchliche Vorgehensweisen.“

Ganz hinten im Raum sitzt die 24-jährige Emily, ein junges Gesicht unter zwei Dutzend älteren. Sie hat vor einigen Jahren in der Schule ein Referat über Euthanasie gehalten, das Thema lässt sie bis heute nicht los. Deshalb ist sie hier, sie will mehr erfahren. Und deshalb folgt sie nach dem Vortrag auch der Einladung in die Bibliothek der KZ-Gedenkstätteninitiative. Die Stuttgarter Ärzte wurden übrigens nie zur Rechenschaft gezogen für das, was sie getan hatten, und praktizierten nach einer ergebnislosen Gerichtsverhandlung einfach weiter.