Wilfried Gaißert erhält die Auszeichnung für sein jahrzehntelanges ehrenamtliches Engagement.

Leonberg - Von der bescheidenen „Beschützenden Werkstatt“ von 1968 über die stetig wachsende „Werkstatt für Menschen mit Behinderung“ zum Unternehmensverbund Atrio, dem drittgrößten produzierenden Arbeitgeber der Stadt, hat sich die Begleitung von Menschen mit Handicap immer neuen Herausforderungen gestellt. Seit mehr als 40 Jahren dabei, davon 25 Jahre als Vorsitzender des Vereins und des Aufsichtsrates tätig, ist Wilfried Gaißert. Dafür hat der frühere Stadtkämmerer von Leonberg nun das Bundesverdienstkreuz erhalten. Angesteckt wurde es ihm vom derzeitigen Oberbürgermeister Martin Cohn, unterzeichnet ist die Urkunde von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier.

 

„Unter Ihrer Verantwortung verfolgte der Verein schon früh den Gedanken der Inklusion und setzt sich bis heute unermüdlich für eine umfassende Teilhabe der Menschen mit Behinderungen in unserer Gesellschaft ein“, lobt der Oberbürgermeister. Und weiter: „Mit Beharrlichkeit und großer Überzeugungskraft haben Sie Widerstände in der Gesellschaft abgebaut und eine dezentrale Struktur von Versorgungsangeboten geschaffen, die es ermöglichen, dass hilfebedürftige Menschen weiter in der Nähe ihrer Familie und ihrer Freunde leben, soziale Kontakte halten und ein großes Maß an Selbstständigkeit entwickeln können.“

Dankbarkeit und Überzeugung

Danach ergriff Gaißert das Wort vor den knapp 20 geladenen Gästen: „Ich bin sehr dankbar, dass mit dieser öffentlichen Anerkennung die Stellung der Menschen mit Handicap innerhalb unserer Gesellschaft in das Bewusstsein gerückt wird.“ Das Lob wollte er allerdings nicht allein für sich beanspruchen. „Das Bundesverdienstkreuz nehme ich mit der Überzeugung entgegen, dass mit dieser Ehrung unser gemeinsames Wirken in der Behindertenarbeit Anerkennung findet“, sagte Gaißert. „Die Entwicklung unseres Vereins konnte während der vergangenen 50 Jahre nur so erfolgreich sein, weil viele Ehrenamtliche, Mitarbeitende und Beschäftigte in diese Aufgabe eingebunden sind.“ Und weiter: „Für mich ist diese Ehrung deshalb weit mehr als eine Anerkennung nur meines persönlichen Engagements. Ich sehe mich geehrt, diese hohe Auszeichnung gleichsam stellvertretend für alle meine Wegbegleiter entgegennehmen zu dürfen.“

„Zum Vorsitz bin ich wie die Jungfrau zum Kinde gekommen“, sagt Wilfried Gaißert, der bis 2010 Leiter der Leonberger Kämmerei war, im Rückblick. 1991 habe es im Verein Schwierigkeiten gegeben, den Vorsitz zu besetzen, sogar eine Auflösung stand im Raum. Dann wurde bei der Stadt nachgefragt, ob diese den Verein übernehmen könne. „Da fiel der Blick von Oberbürgermeister Ortlieb auf mich, der ja schon seit 1975 Mitglied im Verein war“, sagt Gaißert schmunzelnd. Auch der damalige Leonberger Finanz- und Sozialbürgermeister Wolfgang Rückert habe als sein direkter Vorgesetzter seine Zustimmung gegeben.

Immer mehr Aufgaben

Doch der Produktionsbetrieb wuchs immer weiter, die Aufgaben nahmen zu. Die Automobilindustrie in der Region, Geze, Perma-Trade und andere Kunden schätzen die Zuverlässigkeit der Werkstatt. Auch um Haftungsfragen zu klären und schnellere Entscheidungen treffen zu können, wurde die Werkstatt aus dem Verein Behindertenhilfe als Tochtergesellschaft ausgegliedert. 1994 wurde auch eine Zweigstelle in Höfingen eröffnet. Geschäftsführer wurde der heute hauptamtliche Vorsitzende von Atrio, Bernhard Siegle.

Im Jahr 2002 wurde die Atrio-Stiftung gegründet. Die unterstützt finanziell Projekte, die sonst kaum mit Fördergeldern rechnen können. Das Ergebnis war, dass 2007 die Satzung geändert und ein hauptamtlicher Vorstand eingesetzt wurde, den nun der neu geschaffene Aufsichtsrat kontrolliert. Das nächste Projekt war die Integrationsfirma Leda, die Menschen mit und ohne Behinderung Arbeit gibt. Im Jahr 2013, als Behindertenhilfe, Werkstatt und Stiftung in Atrio umfirmierten, wurde in Höfingen die Werkstatt Pfad für psychisch kranke Menschen eröffnet.

„Es ist erfreulich zu sehen, wie sich das Selbstverständnis der Einrichtung in fast fünf Jahrzehnten gewandelt hat“, sagt Wilfried Gaißert. „Stand anfangs noch das Beschützen, dann das Betreuen von Menschen mit Behinderung im Vordergrund, geht es heute um das Thema Inklusion, um Teilhabe in allen Lebensbereichen, um das selbstbestimmte Arbeiten, Leben und Wohnen.“