In einem Kosmetikkurs lernen krebskranke Frauen, wie sie verlorene Wimpern und Augenbrauen kaschieren.

Leonberg - Es ist der Horror innerhalb eines Albtraums: Frauen, die an Krebs erkranken macht häufig die Folgen einer Chemotherapie mehr zu schaffen als die eigentlichen Krankheitssymptome. Das hat denn auch die Leonberger Selbsthilfegruppe für „Frauen nach Krebs“ erkannt. Regelmäßig werden ganz besondere Schminkkurse angeboten. Hier geht es nicht um Wellness, sondern um die Rückeroberung der eigenen Würde.

 

Gleich zu Beginn der Chemotherapie entschloss sich Lotte Vohl für einen radikalen Schritt: Sie bestellte eine Perücke und ließ sich ihre blonden Haare bis auf fünf Millimeter abrasieren. Die 64-Jährige wollte nicht warten, bis sie von alleine ausfallen. Sie wollte nicht jeden Morgen weitere Haarbüschel auf ihrem Kopfkissen finden. Nur schwer gewöhnt sich die selbstbewusste Frau an ihre neue Erscheinung; sei es mit Perücke oder ohne. Blass sehe sie aus und mitgenommen, die Sonne muss sie wegen der starken Medikamente meiden. „Wenn ich in den Spiegel schaue, dann sehe ich einen fremden Menschen“, erzählt Lotte Vohl. Nur zum Briefkasten geht sie ohne Kunsthaar, in der Stadt trägt sie stets Perücke. „Einfach wieder gesünder aussehen“, wollte die Krebskranke. Deshalb ist die Frau aus Leinfelden-Echterdingen ins Leonberger Krankenhaus gekommen, zum Kosmetikkurs für betroffene Frauen.

„Wenn die Haare ausfallen, ist das die sichtbarste Nebenwirkung der Chemotherapie“, sagt Harald Wolf, der Chefarzt für Frauenheilkunde und Geburtshilfe in Leonberg. „Wir wollen erreichen, dass Sie sich wohler fühlen und natürlich aussehen.“ Vier krebskranke Frauen sind gekommen, aufmerksam hören sie zu. Zwei von ihnen haben die Haare bereits verloren, den anderen stets es noch bevor.

Lotte Vohl hat ihre Perücke sofort abgenommen, nachdem sie den Konferenzraum betreten hat. Die blonden Haare liegen neben ihr auf der Handtasche. Draußen knallt die Sonne, die Luft ist schwül. „Bei der Hitze ist es unangenehm. Man schwitzt darunter und es juckt“, sagt die 64-Jährige. Die andere Krebskranke geniert sich noch, später nimmt auch sie ihr Kopftuch ab.

Chefarzt Wolf macht den Frauen Mut: „Viele Menschen werden denken, Sie hätten einen modischen Kurzhaarschnitt“, versichert er. „Tragen Sie eine große Sonnenbrille und auffällige Ohrringe dazu. Das sieht ganz toll aus“, rät Maike Winkelmann, die ehrenamtlich für die gemeinnützige Gesellschaft DKMS Life arbeitet und den Patientinnen Schminktipps gibt. Sie spricht in der folgenden Stunde nie von einer Glatze, immer vom „großen Gesicht“.

„Zumindest sind die Haare schnell gekämmt und man spart Shampoo“, sagt die Dame mit dem Kopftuch, die anderen schmunzeln. Die Frauen suchen hier kein Mitleid, sie wollen sich informieren und so gut wie möglich mit den Folgen der Chemotherapie leben.

„Ich möchte, dass Sie die Krankheit für einen Moment vergessen und die Auswirkungen besser verarbeiten können“, sagt Maike Winkelmann und reicht Jeder eine Tasche mit Kosmetikprodukten. Verschiedene Firmen haben sie gespendet. „Es ist wichtig, dass Sie die Haut und das große Gesicht pflegen“, rät die Expertin. Die starken Medikamente seien belastend und der Kopf zudem nicht mehr durch Haare geschützt. „Lassen Sie alles auf sich zukommen. Jeder reagiert anders auf die Chemotherapie. Wir haben Mittel, um die sichtbaren Folgen zu beheben“, sagt Maike Winkelmann und zeigt, wie sich verschwundene Augenbrauen mit einem Stift und Puder nachzeichnen lassen. Die Expertin lässt Wimpern entstehen, schminkt Augenlider verrucht dunkel.

„Huch, das sieht ganz anders aus. Aber es gefällt mir gut“, sagt die Jüngste der Runde, sie ist gerade einmal Ende dreißig. „Nachher überrasche ich meinen Mann.“ Für einen Moment wirken die Frauen wie eine Gruppe Teenager, die sich für das erste Date fertig macht. „Heute Abend müssen wir zusammen ausgehen.“ Die anderen lachen. „Wenn die Augen betont sind, dann wirkt das Gesicht ganz anders“, erklärt Maike Winkelmann und zeigt, wie die Patientinnen am besten Wimperntusche, Rouge und Lippenstift auftragen. Interessiert betrachten sich die Frauen im Spiegel. „Man fühlt sich einfach anders“, sagt eine. „Ich habe mich davor nie geschminkt und bin erstaunt“, meint Lotte Vohl und setzt die Perücke auf ihre kurzen Haarstoppel. Sie ist kaum wiederzuerkennen. „Ich stehe jetzt kurz vor der Rente. Ich will noch nicht abtreten“, sagt's und lächelt.