Zehn Jahre „Zeit für Menschen“: Der Kabarettist und Pfarrer Rainer Schmid spielt mit Klischees.

Leonberg - Chinesische Reinigungskräfte können sehr schnell laufen – zumindest ist das die Erfahrung von Rainer Schmid. Er hat das selbst erlebt, am Flughafen Shanghai, als er am Gepäckband einnickte und sich plötzlich von schnatternden Chinesen umkreist sah, von denen der Mutigste auf sein Däumchen pikste – und mit den Kollegen fluchtartig das Weite suchte, als der paralympische Athlet und Pfarrer Schmid erschrocken aufsprang.

 

„Däumchen“ nennt Rainer Schmid den kleinen Knubbel auf seinem rechten Arm. Der ist nur eine Facette seiner Erscheinung. Denn Schmid, evangelischer Pfarrer, Dozent und Kabarettist, ist ohne Hände, ohne Unterarme und mit verkürztem Oberschenkel auf die Welt gekommen. Dafür aber mit einem kritischen Kopf, eisernem Durchhaltevermögen und einer ordentlichen Portion Humor. Zum Unterweiser in Sachen Inklusion scheint er wie geboren.

Auf das Leben sehen, das könnte sein Motto sein. Doch tatsächlich ist das der Untertitel der Ausstellung, die am Montagabend im Haus der Begegnung anlässlich des zehnten Geburtstags der Leonberger Stiftung „Zeit für Menschen“ eröffnet wurde: „Was bleibt.“ heißt die Wanderausstellung, der Punkt ist wichtig. Denn die Ausstellung fragt nicht, sie zeigt. Das, was dem Einzelnen so wichtig ist, dass es bleiben soll. Und das sind nicht immer materielle Werte.

Der Apfelkuchen schmeckt nach Kindheit

Für Dekan Wolfgang Vögele, der als Vorstand der gemeinsamen Stiftung der Stadtkirche Leonberg und der Michaelskirche Eltingen als einer von vieren die Ausstellung in Leonberg eröffnet, ist das zum Beispiel die Erinnerung an den Apfelkuchen seiner Großmutter und damit eine ganze Reihe von Kindheitserinnerungen. Das Kuchenrezept – ja, es ist aus dem schwäbischen Generationen durchweg geläufigen Kochbuch der Luise Haarer – steckt er in ein Schatzkästchen.

Ein solches steht unter jedem Ausstellungsplakat, gefüllt mit dem, was den Menschen etwas bedeutet, was sie weitergeben, von dem sie erzählen und das sie verschenken möchten. Auch Pfarrer Frank Wößner, Vorsitzender der Samariterstiftung und der Stiftung Zeit für Menschen, hat etwas fürs Schatzkästlein dabei: „Wir bauen auf Vertrauen“, die Postkarte mit diesem gelebten Motto findet den Weg neben das Rezept. Manfred Volz, Vorsitzender der Hospiz-Stiftung, stellt seinen Schatz daneben: ein Haus, ein Symbol für das Hospiz, das es möglich macht, in Würde zu sterben. Und schließlich zeigt der Leonberger Pfarrer Matthias Krack ein von Herzogin Sibylla von Württemberg gestiftetes Taufgeschirr, das seit 400 Jahren in der Stadtkirche verwendet wird – dieses „Handwerkszeug“ hat schon etliche Zeit überdauert.

Wie schafft man Nähe?

Pfarrer Krack ist auch der aktuelle Präsident des Lions-Clubs Solitude. Der unterstützt, ebenso wie der Lions-Club Leonberg, nicht nur etliche Projekte des Samariterstifts und des Hospizes, sondern hat zum 100. Geburtstags der beiden Lions-Clubs auch Rainer Schmid für den Abend eingeladen. Der tut am Jubiläumsabend das, was auch die vielen Stiftungsmitglieder und ihre ehrenamtlichen Helfer tagtäglich tun: Er schafft Nähe. Indem er auf das Publikum zugeht, durch die Stuhlreihen zieht und keine Berührungsängste zeigt. Und er erklärt, was Inklusion bedeutet: Dabeisein, ganz selbstverständlich.

Selbstironisch, witzig und anschaulich erzählt er vom Leben als Mensch mit Handicap. „Wenn man so aussieht wie ich, ist kein Tag langweilig“, sagt er, da möchte einem das Lachen im Hals stecken bleiben. Doch Schmid lacht, das Publikum tut’s ihm gleich – die Leonberger sind an diesem Abend schwer zu knacken. Bis er Geschichten aus seinem Alltag erzählt, wie die, als ihm an der Tankstelle der Vortritt gelassen wurde und ihm der Tankwart beim Verlassen „Gute Besserung“ wünschte. Oder wenn er auf die Frage von Kindern, warum er keine Hände habe, antwortet: „Abnutzung!“ und er dann sardonisch grinsend beobachtet, wie die kleinen Hände tief in den Taschen verschwinden und sich die Eltern fragen, wie sie den Nachwuchs jetzt jemals zur Hausarbeit bewegen sollen.

Von der poetischen Freiheit

„Alles wahr“, behauptet Schmid, „denn als Pfarrer darf ich ja nicht lügen. Ich nehme mir lediglich eine gewisse poetische Freiheit.“ Glücklicherweise, sonst wäre der Abend nicht halb so unterhaltsam.

Doch Schmid wäre weder Pfarrer noch Kabarettist, wenn er nicht auch eine Lektion bereithielte. „Die kürzeren Arme sind nicht der wichtigste Aspekt an mir, ich habe auch sehr schöne blaue Augen“, sagt er mit Augenaufschlag und erzählt von seiner Kindheit im Dorf: „Die Menschen hatten sich an mich gewöhnt, bevor mir überhaupt klar wurde, dass ich mich von anderen unterschied. Als es mir bewusst wurde, war das für die anderen schon normal.“ Das ist Inklusion: Dazugehören. Ganz einfach.