Martha Binder aus Leonberg lebt seit sechs Jahrzehnten direkt an und mit der Bahn. Jetzt feiert sie ihren 100. Geburtstag. Ein Besuch in ihrem besonderen Haus.
Immer wieder saust die S-Bahn vorbei, direkt am Wohnzimmerfenster im ehemaligen Bahnwärterhaus im Glemstal am Leonberger Stadtrand. Für Martha Binder gehört das zum Leben dazu, sie nimmt die Züge noch wahr, sie stören sie aber schon lange nicht mehr. Seit 1963 und damit seit mehr als 60 Jahren wohnt sie nun schon in dem Haus, dessen Ursprünge in den Anfängen der Bahn im 19. Jahrhundert liegen. In diesen Tagen rund um den Jahreswechsel begeht die rüstige Dame ihren 100. Geburtstag.
Vom Glemstal aus geht es ein ganzes Stück bergauf bis zum Bahndamm. Dort steht das Wohnhaus von Familie Binder, dem man längst nicht mehr ansieht, dass es früher einmal ein kleines Bahnwärterhäusle war, wie man es von alten Bildern kennt. „Mein Mann arbeitete bei der Bahn in Fellbach und als es frei wurde, konnten wir dort einziehen“, erzählt Martha Binder.
Weil es für die Familie mit zehn Kindern bald zu eng wurde, wurde angebaut. Erst kamen auf einer Seite Räume dazu, später auch auf der anderen. So ist heute, Jahrzehnte später, immer noch genug Platz, dass neben der Seniorin noch weitere Familienangehörige im Haus leben können.
Früher übten die Bewohner eines solchen Gebäudes als Bahnwärter verschiedene Tätigkeiten entlang der Gleise aus, etwa als Streckenläufer nach dem Rechten schauen, Lichter in Signalen anzünden, Weichen stellen und vieles mehr. Doch das ist alles längst Vergangenheit. Und das war es auch schon 1963, als Martha Binder mit ihrem aus Renningen stammenden Ehemann und den Kindern vom Rankbach an die Glems zog. Damals, so erinnert sich die gelernte Damenschneiderin, war das Tempo der Züge noch ein gemächlicheres. „Wenn man früher den Zug gehört hat, hatte man noch Zeit, über die Gleise zu gehen.“ Heute unvorstellbar, wo gefühlt im Minutentakt die S-Bahn-Züge erstaunlich geräuscharm vorbeifahren.
An der Bahnstrecke entlang zu Schule
Martha Binder und ihre Tochter Gerlinde Wöhr erzählen davon, wie früher die Familienmitglieder vom ehemaligen Bahnwärterhaus auf einem Weg direkt an der Bahnstrecke entlang in rund 20 Minuten in die Stadt liefen, um in die Schule oder zum Einkaufen zu gehen oder weiter zum Leonberger Bahnhof, von wo Ehemann Paul Binder zum Arbeitsplatz nach Feuerbach pendelte. Heute wäre das viel zu gefährlich. Denn die Züge fahren nicht nur viel häufiger, sondern auch viel schneller. Ob sie sich durch den regen Betrieb nebenan auf der Schiene nicht gestört fühlt? Nein, sagt Martha Binder mit Bestimmtheit. „Eine Straße mit Autos wäre lauter und wir haben hier keine Abgase. Das ist auch was wert.“ Tatsächlich liegt das Haus mit großem Garten weitab im Grünen. „Wir wohnen in der Natur, die Bahn stört da nicht, man muss sie aber auch akzeptieren“, so Martha Binder. Und ihre Kinder mussten von klein auf lernen, nicht auf die Gleise zu gehen, da war die Mutter streng. Ein Zaun trennt heute noch das Grundstück von den Gleisen.
Bis ein Uhr nachts fahren die S-Bahnen am Haus vorbei und öfter sind auch noch Güterzüge unterwegs. „Die sind schon lauter, aber man weiß ja, was es ist, und dann stört es auch nicht.“ Ob sie jemals ihre innere Uhr nach den vorbeifahrenden Zügen gerichtet hat? „Nein, nein, ich brauche schon eine Uhr“, sagt sie lachend. „Auf den Zug konnte man sich nie verlassen – auch früher nicht!“
Martha Binder, die ihren Haushalt noch weitgehend selbst führt, kann jetzt ihren 100. Geburtstag feiern, „auch dank dem Team um Professor Wolfgang Steurer vom Krankenhaus Leonberg, der unsere Mutter im Alter von 98 Jahren wegen einer Darmerkrankung noch operiert hat“, ergänzt ihre Tochter Gerlinde Wöhr. Zur Feier des runden Geburtstages kommen alle zehn Kinder, 16 Enkel und 14 Urenkel mit Partnerinnen und Partnern zusammen. Für ein solches Fest ist selbst im ausgebauten Bahnwärterhaus nicht genügend Platz, deswegen wurde schon auswärts ein großer Saal gebucht.