Christoph Rickels erzählt, wie er binnen einer Nacht zum Schwerbehinderten wurde.

Leonberg - Schon von weitem sind die Stimmen zu hören. Doch entgegen aller Erwartung ist von düsteren Geschichten und bösen Absichten keine Spur. Im Gegenteil – Gelächter, umhertobende Kinder und fröhliche Gesichter erwarten einen, sobald man das Gelände betritt.

 

Das Seehaus in Leonberg hat am Sonntag zum großen Fest für die gesamte Familie eingeladen. Das denkmalgeschützte Gebäude beherbergt ein Projekt des Jugendstrafvollzuges, das straffälligen Jugendlichen eine Alternative zum Gefängnis bietet. Die Besucher bekamen ein abwechslungsreiches Programm geboten, bei dem sie die Arbeit im Seehaus und interessante Gäste kennenlernen konnten. Um 14 Uhr gab es einen Festakt, bei dem Baden-Württembergs Justizminister Guido Wolf (CDU) begrüßt.

75 Prozent nicht mehr ins Gefängnis

„Nun ist schon das sechzehnte Jahr angebrochen, in denen wir straffällige Jungen auf ein Leben in Freiheit vorbereiten“, sagt der Justizminister. „Es handelt sich um Jungs, die vom Weg abgekommen sind und oft auf ein düsteres und strukturloses Leben zurückblicken. Doch wir bieten ihnen die Möglichkeit, ihr Potenzial zu nutzen und stellen die Weichen, damit sie wieder auf den richtigen Weg gelangen.“ Dass diese offene Form des Strafvollzuges fruchtet, beweisen die Zahlen. „Ganze 75 Prozent der jungen Männer müssen nach ihrem Aufenthalt im Seehaus nicht mehr ins Gefängnis!“, sagt der Minister stolz.

Neben der Rede vom Justizminister war ein Interview mit Christoph Rickels zum Thema „Anstoß für ein neues Leben“ ein besonderer Höhepunkt der Veranstaltung. Der 32-jährige Christoph Rickels wurde vor zwölf Jahren zum Gewaltopfer – mit bleibenden Folgen. Der damals 20-Jährige war eines Abends in einer Diskothek feiern und hatte einer Frau einen Drink spendiert. Ihr eifersüchtiger Freund lief ihm auf dem Nachhauseweg hinterher und schlug ihn zu Boden.

„Vor der Kamera fast getötet“

„Er hat mich vor laufenden Kameras fast getötet“, erzählt Rickels. Daraufhin lag er vier Monate lang im Koma und wachte mit halbseitiger spastischer Lähmung und schweren Sprachproblemen wieder auf. Nichts war so wie früher. Er hatte alles verloren, was früher sein Leben ausmachte. „Das Schlimmste ist, dass ich sozial ausgegrenzt werde und immer weiter kämpfen muss“, sagt Rickels.

Doch entgegen aller Erwartungen versank Rickels nach dem Vorfall nicht in Selbstmitleid. Im Gegenteil – er gründete die Initiative „First-Togetherness“. Zudem ging er mit seiner Geschichte an die Öffentlichkeit und startete einen YouTube- Kanal. „Ich habe meine Initiative im Jahr 2010 gestartet. Der Grundgedanke dahinter ist, dass wir ein neues Miteinander brauchen und dass wir zusammen am stärksten sind“, sagt Rickels lächelnd. Bestimmt fügt er hinzu: „Meine Kernbotschaft ist, dass man immer das erntet, was man säht. Damit meine ich, dass im Leben alles irgendwann zurückkommt. Man sollte deshalb stets das Gute verfolgen und kämpfen, wenn es gerade schwer ist.“

Die Opfer leiden ein Leben lang

Um den Menschen zu zeigen, wie viel Leid eine Straftat verursachen kann, reist Rickels durch ganz Deutschland. „Ich bin ein lebendes Beispiel für die Folgen von Gewalt. Die Menschen, die mich erleben, sind berührt. Deshalb humple ich in Schulen und Gefängnisse, um die Menschen zum Nachdenken zu bringen“, sagt Rickels. Diesen Gedanken befürwortet auch Tobias Merckle. Er ist der geschäftsführende Vorstand und Einrichtungsleiter des Seehauses und möchte die Denkweise seiner 14 Schützlinge verändern. „Der Vortrag von Rickels soll unseren Jungs helfen, sich in die Opferperspektive zu versetzen“, erklärt er. „Für die Jungs dauert eine Straftat oft nur fünf Minuten. Ihnen ist nicht bewusst, dass ihre Opfer oft ein Leben lang leiden“, sagt er.

Der Vortrag von Rickels ging auf jeden Fall unter die Haut. Er regte zum Nachdenken an und machte klar, dass eine einzige unüberlegte Tat ein ganzes Leben zerstören kann.