Straßenstrich und illegale Bordelle ziehen das Leonhardsviertel nach unten. Darin sind sich die Behörden zwar einig – aber nicht darin, wie dagegen vorzugehen ist.

Stuttgart - Die Lebensqualität im Leonhardsviertel hat sich dramatisch verschlechtert. Das alte innerstädtische Wohnquartier befindet sich in einer Abwärtsspirale und strahlt auf die benachbarten Gebiete aus. So urteilt nicht nur Erhard Bruckmann, der Vorsitzende des Verschönerungsvereins mit Vereinshaus im „Rotlichtviertel“. Darin sind sich auch die Stadtverwaltung und Ratsfraktionen einig. Und ins selbe Horn stoßen sogar Betreiber von Bordellen, die dort schon vor 1985 waren und für sich deshalb einen Bestandsschutz reklamieren.

 

Sie listen vier Bordelle und drei Animierbars mit legalem Anstrich auf, die das Viertel problemlos verkraften könne – nicht aber die weiteren 22 angeblich illegalen Konkurrenzbetriebe sowie drei Hotels, in denen Dutzende Frauen aus Osteuropa ihrem Gewerbe nachgehen. Stadtrat Jochen Stopper (Grüne) spricht von einem „Armuts- und Elendsstraßenstrich“, der nur deshalb floriere, weil „einige Eigentümer mit der missbräuchlichen Nutzung ihrer Immobilien viel Geld verdienen“.

Erhard Bruckmann hat 2011 und jetzt erneut erklärt, „Auswüchse in dieser Form nicht länger widerspruchslos hinzunehmen“. Schließlich haben sein Verein und der Schwäbische Heimatbund, auch um das Leonhardsviertel zu stärken, eine Million Euro in die Renovierung ihrer Baudenkmäler in der Weber- und der Richtstraße investiert. Der Anwalt droht der Stadt mit rechtlichen Schritten, falls sie untätig bleibe. Und er stellte klar, dass in keinem zum Bordell umgewandelten Wohnhaus die Brandschutzanforderungen erfüllt sein dürften. Käme es zu einer Brandkatastrophe wie etwa in Backnang könnten Bürgermeister und Amtsleiter nicht behaupten, sie wären nicht gewarnt worden.

Die Bemühungen sind nur halbherzig

Die Verwaltung sagt, sie gehe verstärkt gegen illegale Betriebe vor, hat einen gemeinderätlichen Unterausschuss „Leonhardsviertel“ gebildet und eine ämterübergreifende Einheit. Doch die Kritik bleibt, auch nach einigen reinigenden Polizeieinsätzen: Weiterhin nur halbherzig seien die Bemühungen, die Zustände zu verbessern. Die Ämter arbeiteten aneinander vorbei, seien zu zögerlich mit Anzeigen, verzichteten auf Nutzungsuntersagungen und auf sofortige Hausräumungen – so klagen die Menschen vor Ort.

Es sei an der Zeit, dass der neue Oberbürgermeister Fritz Kuhn (Grüne) den Kampf ums Leonhardsviertel zur Chefsache mache und Struktur hineinbringe. Schließlich spreche er ständig von sozialer Gerechtigkeit und von der Notwendigkeit, billige Wohnungen anzubieten. Hier habe er die Gelegenheit dazu. Die Stadt müsse Häuser kaufen oder mieten, sagt auch Kuhns Parteifreundin, die Bezirksvorsteherin Veronika Kienzle. Einige Organisationen wie die Caritas hätten Interessen, auch Handwerker, Künstler, Studenten, für die das Milieu bei zivilen Mieten eine Herausforderung wäre.

Baubürgermeister Matthias Hahn (SPD) beschäftigt sich mit dem Problem seit einem Vierteljahrhundert. Mit der Leiterin des Baurechtsamts, Kirsten Rickes, wehrt er sich gegen den Vorwurf, nicht konsequent gegen illegale Betriebe vorzugehen. Von fünf Prozessen seien drei gewonnen worden, die anderen beiden dauerten an. Auf der Gegenseite warten, zum Verdruss der Rathausspitze, „die besten Stuttgarter Verwaltungsrechter“, um dem Milieu zu helfen. Sie zögerten Urteile bis zu fünf Jahre mit absurden Argumentationen hinaus. Spontane Schließungen hält Rickes für schwierig. Die Stadt will nicht riskieren, dass sich die Gegenseite mit erfolgreichen Klagen gegen einen Sofortvollzug brüstet.

Bis heute sperrt kein Poller die Fahrbahn

So bleibt neben der Polizeipräsenz im „sozialen und städtebaulichen Brennpunkt“ zur Rettung des Viertels nur dessen Verschönerung und eine „aktive Bodenpolitik“. Vor eineinhalb Jahren wurde die teilweise Sperrung der Leonhardstraße beschlossen – bis heute hat es die Stadt nicht geschafft, einen Poller auf die Fahrbahn zu betonieren. Und auch die Immobilienpolitik von Finanzbürgermeister Michael Föll stößt in den Gremien auf Unverständnis.

Die Idee, fortan der Wohnungsbautochter SWSG den Bestand und den Ankauf zu überlassen, stieß etwa im Bezirksbeirat Mitte auf Ablehnung. Föll sagt, die SWSG werde durch eine attraktive Innenhofgestaltung den Wohnungsbau stärken. Betroffene trauen der SWSG eher zu, städtische Häuser an Bordellbetreiber und Striplokalbesitzer zu verkaufen. Föll kontert mit den „Möglichkeiten“ der Stadt, dies der SWSG zu untersagen. Und er verweist auf die „Rotlichtklausel“, also das vertragliche Verbot, Bordelle in Wohnhäusern einzurichten. Das ist mitunter ein stumpfes Schwert, wie etwa der Fall des Gebäudes Weberstraße 5 a zeigt, das nach dem Verkauf an die Sozialwert GmbH und dem Weiterverkauf nun einen Eigentümer aus dem Milieu erhielt, mit dem sich die Stadt in einem jahrelangen Zivilprozess streiten musste, wie das Amt für Stadtplanung kürzlich aus gutem Grund betonte.

Damit sich so ein Fall nicht wiederholt, hatte die Behörde Ende Januar „um Ausübung des besonderen Vorkaufsrechts“ für das Gebäude Leonhardsplatz 22 gebeten, das die Stadt 2006 für 215 000 Euro an die Sozialwert GmbH verkauft hatte und das nun für 480 000 Euro an einen Privatmann veräußert werden sollte. Die Ausübung des Vorkaufsrechts sei allerdings nicht möglich, erfuhr der Wirtschaftsausschuss vergangene Woche von Bürgermeister Föll. Die Aussage, auch die Stadtplaner sähen keine rechtliche Grundlage, macht nun Ärger. Das sei überhaupt nicht die Haltung der Behörde gewesen, betonte Baubürgermeister Hahn. Zu ändern ist das jetzt aber nicht mehr: Am vergangenen Freitag lief die Frist für das Vorkaufsrecht ab.