Menschen, die in der Stadt leben oder dort aufgewachsen sind, haben öfter psychische Störungen. Das habe viel mit Stress zu tun, sagt der Psychiater Andreas Meyer-Lindenberg. Und Stress habe viel mit niedrigem oder unsicherem sozialem Status zu tun.

Stuttgart - Psychologen können manchmal richtig gemein sein – und sie müssen es auch, wenn sie bei Laborexperimenten herausfinden wollen, wie Menschen auf Stress reagieren. Andreas Meyer-Lindenberg und seine Mitarbeiter am Mannheimer Zentralinstitut für Seelische Gesundheit (ZI) laden zum Beispiel Probanden zu einem Test im Kopfrechnen ein. Je nachdem, wie gut ein Kandidat dabei ist, werden die Fragen mit der Zeit immer schwieriger und schneller hintereinander gestellt. Wenn dann der Kandidat ins Grübeln gerät, wird ihm signalisiert, dass er ziemlich schlechte Ergebnisse liefere und dass er sich doch anstrengen möge. Die Untersuchung sei schließlich teuer.

 

Das Ergebnis solcher Gemeinheiten: beim Kandidaten steigen Blutdruck und Herzfrequenz, und in seinem Gehirn nimmt die Aktivität ganz bestimmter Areale zu. Der Test soll stressig sein für die Probanden, denn Meyer-Lindenberg, der seit 2007 Vorstandsvorsitzender des ZI ist, will herausfinden, wie man Stress wissenschaftlich verlässlich messen kann. Er und seine Mitarbeiter interessieren sich besonders für zwei Regionen des Gehirns: die Amygdala, auch Mandelkern genannt, und das Zingulum, das den Namen von seiner gürtelförmigen Struktur hat. Beide Regionen zeigen bei Stress veränderte Aktivität.

Unterschiede zwischen Stadt und Land

Die Folgen des Stress für die Gesundheit waren das Thema des Vortrags von Meyer-Lindenberg bei der Leser-Uni. Er sprach über Stress in der modernen Welt und vor allem über die Unterschiede bei Menschen, die in der Stadt leben oder dort geboren und aufgewachsen sind, und solchen, die ihr Leben auf dem Land verbringen.

Psychische Störungen, so Meyer-Lindenberg, nehmen generell zu. Burn-out und andere Störungen seien immer häufiger Anlass für Arbeitsunfähigkeit und Frühverrentung. Wer wissen wolle, woran das liege, müsse die Frage stellen: „Was tut sich in unseren Lebensverhältnissen?“

Einen Hinweis auf die Antwort gibt eine Studie, für die untersucht worden ist, was das Leben eines Menschen verlängern kann. Sport ist demnach gut, Schlanksein besser als Körperfülle, wenig Alkohol zu trinken auch. Aber mit weitem Abstand voraus rangiert „ein günstiges soziales Umfeld“. Meyer-Lindenberg ironisch: „Schauen Sie sich das genau an! Das erspart Ihnen die Lektüre von fünf Jahrgängen der Apotheken-Umschau.“

Offenbar ist die Stadt ein schlechteres soziales Umfeld als das Land. Depressionen, Angsterkrankungen und Schizophrenie sind häufiger bei Menschen, die in der Stadt leben oder dort geboren und aufgewachsen sind. Meyer-Lindenberg: „Die These ist, dass das viel mit Stress zu tun hat.“ 42 Prozent der Baden-Württemberger sagen, sie seien gestresst. Das ist Rekord in Deutschland. Bayern rangiert mit 24 Prozent im Vergleich der Bundesländer am anderen Ende der Skala.

Stresssignale im Gehirn

Unter Stress steigt die Aktivität der Amygdala – aber bei Städtern viel mehr als bei Landbewohnern. Die Amygdala, so der Referent, ist „eine Art Gefahrensensor“; sie löst „Angst-, Flucht- oder Kampfreaktionen“ aus. Das Zingulum wiederum ist sehr aktiv bei Schizophrenie – und bei Menschen, die in der Stadt geboren und aufgewachsen sind. Beide Hirnregionen sind über einen Regelkreis miteinander verbunden. „Beide Enden des Regelkreises sind durch die Stadtumgebung verändert.“

Und woher kommt der Stadtstress? Meyer-Lindenberg nannte mehrere Komplexe. Wichtig für psychisches Wohlbefinden ist der soziale Status, die verlässliche Einordnung in ein soziales Gefüge. „In der Stadt gibt es mehr Gelegenheiten für Statusdiskrepanzen.“ Soziale Netze seien bei Städtern oft „kleiner, fragmentierter“.

Ob und in welchem Maße die Unterschiede zwischen Stadt und Land auch durch Umwelteffekte ausgelöst sind, „wissen wir nicht“, sagte Meyer-Lindenberg. Aber sicher sei: „Mit irrsinniger Geschwindigkeit zieht es die Menschen in die Stadt.“ Ob es helfe, eine „gesündere Stadt“ zu bauen? Meyer-Lindenberg ist dabei, zusammen mit Kollegen aus Karlsruhe zu untersuchen, wie sich das Stressempfinden von Städtern ändert – etwa beim Wechsel von einer Parkanlage zu einer belebten Straße.