Der Mediziner Olaf Rieß berichtet über Gentests und stellt die Frage, was wir mit der Diagnose anfangen können.

Stuttgart - Nein, stellt Olaf Rieß gleich zu Beginn seines Vortrags klar, ein euphorischer Befürworter von Gentests sei er nicht – allerdings auch kein radikaler Gegner. Vielmehr sieht sich der Tübinger Mediziner und Humangenetiker als kritischen Befürworter einer Technik, mit der sich Verbrechen aufklären und Vaterschaften ermitteln, aber auch aktuelle sowie mögliche zukünftige Erkrankungen aus dem Erbgut eines Menschen erkennen lassen. Daher hat er seinen Vortrag auch mit einem Fragezeichen versehen: „Gentests für alle: notwendig oder gefährlich?“

 

Zumindest die Durchführung der Tests sei keineswegs gefährlich, betont der Ärztliche Direktor der Abteilung für Medizinische Genetik am Tübinger Uniklinikum. Und dann zeigt er seinem Publikum im Hörsaal, wie man aus einer wässrigen Lösung die Erbsubstanz DNA ausfällen kann: Diese schwimmt in sternförmigen Flöckchen in dem Reagenzglas, das er herumreicht. Heute, so erklärt er weiter, könnten Gentests in wenigen Stunden im Labor durchgeführt werden. Was aber kann man mit dem Ergebnis anfangen? Und wie sollten die Rahmenbedingungen für solche Tests aussehen?

In der Sprechstunde der Tübinger Humangenetiker nehmen sich die Ärzte für eine genetische Beratung etwa 1,5 Stunden Zeit. Beim Hausarzt seien es im Schnitt gerade einmal sieben Minuten, die für eine Konsultation zur Verfügung stehen, sagt Rieß, denn „sonst wird es unwirtschaftlich“. Im Gegensatz zum Hausarzt fragt der Humangenetiker vor allem nach Krankheitsfällen in der Familie. Für eventuell erforderliche körperliche Untersuchungen sowie Therapien erfolge in der Regel eine Überweisung an entsprechende Fachärzte. Die Entscheidung, ob am Ende des Beratungsgesprächs ein Gentest gemacht werden soll, liege aber ausschließlich beim Patienten, betont Rieß. Viele seien mit der Entscheidung zunächst überfordert und kämen zu weiteren Beratungsgesprächen.

Ein besonders augenfälliges Beispiel für die möglicherweise lebensrettende Aussagekraft von Gentests ist Brustkrebs. Wenn hier eine genetische Veranlagung in der Familie besteht – was in etwa zehn Prozent der Erkrankungen der Fall ist – und die erbliche Belastung durch eine entsprechende Untersuchung aufgedeckt wird, dann lässt sich das Risiko für einen Brust- oder Eierstocktumor bei der betroffenen Frau drastisch senken. Neben einer engmaschigen Überwachung zählt zu den möglichen Maßnahmen auch die vorsorgliche Entfernung von Brustdrüsengewebe sowie der Eierstöcke. „Diese Eingriffe müssen aber gut überlegt werden – schließlich kann man sie nicht wieder rückgängig machen“, gibt Rieß zu bedenken.

Gerade bei der auf den einzelnen Patienten individuell zugeschnittenen Krebstherapie können Gentests einen wertvollen Beitrag zur Behandlung leisten: „Da findet derzeit eine Revolution statt“, berichtet Rieß. Soll man dann nicht gleich das gesamte Genom eines Menschen analysieren, was technisch möglich ist, etwa eine Woche dauert und inzwischen mit etwa 2000 Euro auch finanziell erschwinglich ist? Rieß sieht hier durchaus bedenkenswerte Gefahren: So könnten Versicherer und Arbeitgeber ein großes Interesse an den Ergebnissen haben – was bei bedenklichen Resultaten schnell zu einem gravierenden Nachteil für den Betroffenen führen könne. Als Bedrohung sieht er aber vor allem die Fülle der Informationen. Als Beispiel schildert er das Ergebnis der Genom-Untersuchung des bekannten Molekularbiologen James Watson, der als Mitentdecker der Erbsubstanz DNA den Nobelpreis erhalten hat. Bei ihm wurden annähernd 300 krankheitsrelevante Veränderungen gefunden „Wie gehen wir mit dem Wissen um?“, fragt Rieß. „Wie entscheide ich mich – und wie die Familie?“ Solle man durch entsprechende Maßnahmen dann eher das Risiko für Brustkrebs senken oder doch besser das für Demenz oder Herzinfarkt?

In einem Punkt beruhigt der Humangenetiker allerdings seine Zuhörer: „Die Entwicklung hin zum perfekten Kind, die wird es nicht geben.“ Gleichwohl wachse der Druck auf die Gesellschaft, Gentests durchzuführen – nach dem Motto, diese oder jene Krankheit hätte doch bei entsprechendem Wissen nicht ausbrechen müssen. Wichtig sei aber immer, dass der Betreffende selbst entscheide – nach sorgfältiger vorausgehender Beratung. Zum Schluss gibt Rieß zu bedenken, dass Veranlagung und Lebenswirklichkeit zwei verschiedene Dinge sind: „Wir sind nicht die Summe unserer Gene. Wir sind das, was wir daraus machen.“