Lesung mit Florian Werner Stuttgart zur Stadt der Stunde erklärt
Der Autor Florian Werner liest im Karls-Gymnasium aus seinem Buch „Der Stuttgart Komplex“, in dem er für einen neuen Blick auf die unterschätzte Schwabenmetropole wirbt.
Der Autor Florian Werner liest im Karls-Gymnasium aus seinem Buch „Der Stuttgart Komplex“, in dem er für einen neuen Blick auf die unterschätzte Schwabenmetropole wirbt.
Muhterem Aras war begeistert. Endlich erkennt jemand die Bedeutung von Stuttgart. Und schreibt es auch auf, damit die Welt davon erfährt, dass „Stuttgart die Stadt der Stunde ist“. Denn die Landtagspräsidentin, einst zugezogen aus einem „kleinen Dorf in Ostanatolien“ (Aras), bekennt sich zu ihrer Liebe zu Stuttgart: „Es ist meine Heimat, und ich kann mir keinen besseren Ort vorstellen“. Da ging es ihr runter wie Öl, als sie das Buch „Der Stuttgart Komplex – Streifzüge durch die deutsche Gegenwart“ von Florian Werner in zwei Tagen verschlang. Sie zollte dem Autor bei der Begegnung auf den Stuttgarter Buchwochen nicht nur ihren Beifall, sondern gab sofort den Anstoß für eine Lesung im Karls-Gymnasium, wo Florian Werner 1991 Abitur gemacht hatte. Und obendrein Aras’ Wahlkreis ist. Aber das nur nebenbei. Schulleiter Dieter Elsässer war jedenfalls sofort einverstanden.
Der Titel ist vieldeutig. „Auch ich habe einen Stuttgart-Komplex“ bekennt der Autor, der 1971 in Berlin geboren wurde, mit vier Jahren nach Stuttgart-Sillenbuch kam, seine Kindheit und Jugend hier verbrachte, aber nach dem Abitur sehr schnell fortstrebte und seit langem in Berlin lebt. Wie offenbar viele KG-Mitschüler. Natürlich im angesagten Quartier Prenzlauer Berg. Und woher der Komplex? Weil der 53-Jährige, verheiratet mit der Philosophin Svenja Flaßpöhler und Vater von zwei Kindern, in Berlin, bekannt für Schwaben-Bashing, auf die Angabe seiner Herkunft eher ein betretenes Schweigen als ein zustimmendes oder gar animiertes „cool oder geil“ erntet? Jetzt holt Werner zur Gegenrede aus: „Wer die deutsche Gegenwart verstehen, wer wissen will, wohin die Reise führt, der muss einen Blick auf die notorisch unterschätzte Metropole in Schwaben werfen.“
Sein Blick aus einem Motorsegler auf den Stuttgarter Kessel habe ihm klar gemacht: „Stuttgart ist aktuell derjenige Ort in der Bundesrepublik, an dem sich die Zukunft dieses Landes zusammenbraut.“ Eine „Petrischale“ gar: was hier gesellschaftlich, politisch und künstlerisch keime, werde sich bald über die Ränder in die Republik ergießen. Und so lebe man eigentlich nicht in der Berliner, sondern in der Stuttgarter Republik, weil die Stadt emblematisch für die Bundesrepublik zu Beginn des dritten Jahrtausends stehe. Hört, hört!
Eine steile These, das weiß Werner selbst, die er freilich mit einem Bündel an fünf Prinzipien belegt, eben dem Stuttgart Komplex. Originell, klug, witzig und in der Tat sehr komplex. Hier sei die Wiege von Daimler und Maybach, hier wurde die erste Waldorfschule etabliert, hier, na ja, es war Sindelfingen, sei der erste grüne Landesverband gegründet worden und hier habe es gegen S 21 die erste postmoderne und bürgerliche Protestbewegung gegeben, deren Wutbürger in den Schlagzeilen zu Mutbürgern geadelt worden seien. Wie der Begriff Querdenken der Impfgegner bei der Pandemie habe sich die Haltung in ganz Deutschland verbreitet. Der Feinstaub-Rekord am Löwentor sei leider eher ein Minuspunkt. Am Prinzip Nesenbach macht er kapitalismuskritisch die sozialen Unterschiede in der Stuttgarter Topografie fest, worauf die wunderbare Band des Jazz- Gitarristen Jo Ambros die Internationale in Reggae-Version Band intoniert. Und unter dem Prinzip Schwabylon kann man nachlesen, dass Werner für die Interpretation der Stuttgart-Ikonen Pferdle und Äffle und ihres Hafer- und Bananenblues sogar den Weltgeist Georg Wilhelm Friedrich Hegel bemüht. Um nach dem philosophischen Höhenflug wieder sehr bodenständig auf der Erde zu landen: Bei der Kehrwoche, für die sich Werner bewusst das längste Stäffele in Stuttgart, die Willy-Reichert-Staffel mit 408 Stufen, ausgesucht hat. Wie lange hat er mit seinem Reisigbesen geschafft? „Ha, vier Stunden waren es schon.“ Muhterem Aras ist hingerissen: „Wie einst bei uns zuhause auf dem Dorf. In Berlin“, gibt sie dem Exil-Schwaben mit auf den Weg, „könnte eine Kehrwoche auch nicht schaden.“