Mit einer Lesung und Livemusik haben Christoph Wagner und die Frédéric Rabold Crew in der Pauluskirche an popmusikalische und gesellschaftliche Aufbruchzeiten im Südwesten erinnert.

Zuffenhausen - Die Leinwand, die Christoph Wagner zur Lesung aus seinem Buch „Träume aus dem Untergrund – Als Beatfans, Hippies und Folkfreaks Baden Württemberg aufmischten“ in der Pauluskirche aufgebaut hat, könnte der bloßen Illustrierung seiner Wortbeiträge dienen. Diese Leinwand aber ist eine Parallelbühne, die in Fotografien Bands und deren Auftritte, volle Säle im qualmigen Dunst und heringsdosendichtes Gedränge an Bühnenrampen wiedergibt. Auch mal Schlagzeugausrüstung, die durch die Luft fliegt oder einen Gang durch zertrümmertes Gestühl. In Schwarzweiß zumeist, was die Atmosphären und Ereignisse besonders authentisch erscheinen lässt.

 

Eintrittskarten und andere Trouvaillen

Das aber ist nur das Eine auf dieser Parallelbühne. Das Andere sind, nüchtern betrachtet, nur Dokumente. Sie aber sind der eigentliche Hit, denn sie haben das Potenzial, historisch Interessierte zu kitzeln, auf Entdeckungsreisen zu locken und bei Nostalgikern die innere Leinwand ganz individuell zu bespielen: schnöde Konzertplakate, Eintrittskarten. Aber was für welche! Echte Trouvaillen, Präziosen für Fans, gleich die erste: Januar 1969, Jimi Hendrix, Liederhalle. 1967, The Who in der Donauhalle Ulm; Frohe Weihnachten mit Black Sabbath, 1969 in der Manufaktur Schorndorf. Und wer es nicht gewusst oder erlebt hatte, wird es kaum glauben: Kraftwerk, die folgenreichste deutsche Popband überhaupt – in der Festhalle Feuerbach, Juli 1971. Quasi zum ersten Geburtstag der Pop-Elektriker. Quintessence war da mit dabei, die Lightshow kam von Willi Wuchtig.

Abbruch, Aufbruch, Umbruch

Und wie der Name klingt, so war auch die Zeit: Abbruch, Aufbruch, Umbruch. Der Muff von tausend Jahren sollte nicht nur aus den Talaren geklopft werden, der Finger sollte endlich tief in die Täterschaft der vielen noch lebenden Nazi-Akteure gesteckt werden. Fast ein wenig zahm, wie der Autor das Zeitbild dieser „politischen Fieberausschläge“ sprachlich imaginiert. Studentenrebellion, Rudi Dutschke, Straßenschlachten, Anti-Vietnam-Krieg-, Anti-Schah-Demos und prügelnde Polizisten, „die Langhaarigen“ in Opposition zur Elterngeneration, die Sexualmoral auf Abrüstung im Minirock: „1968 ist eine Chiffre für eine ganze Generation und die Musik ein Bild dieser Zeit“, sagt Wagner, „Musik war da keine harmlose Freizeitbeschäftigung, sondern Ausdruck existenzieller Haltungen und Gesinnungen. Ein Protest gegen die Lebensweise und Weltsicht der Eltern.“ Und nicht nur nebenbei auch ein Spaß, den man sich auf keinen Fall mehr verbieten lassen wollte.

Das aber passierte eben nicht nur in Hamburg oder Berlin, sondern auch „in der schwäbischen Provinz“, was der Autor im Buch deren „kulturelle Selbstermächtigung“ nennt. Teil einer umfassenden Emanzipationsbewegung, die zahlreiche Clubs aus dem Boden sprießen ließ. Auch Proteste und Boykottaufrufe, wenn der Eintritt mal über drei Deutsche Mark ging. Dieses ausführliche Kapitel über die Gegenbewegung zur Kommerzialisierung der entstehenden Branche, am Beispiel der Reutlinger Initiative Gig dargestellt, ist ungemein spannend: wegen ihres idealistischen Ansatzes und wegen der gesellschaftlichen Veränderungskraft, die der popkulturellen Emanzipation zugetraut wurde. Das war auch der Humus, auf dem einst „alternative“, soziokulturelle Projekte wie das Theaterhaus fußen: Heute ein spezifischer Leuchtturm im Kulturangebot Stuttgarts.

Kraan, Lindenberg und Kraftwerk

Ein Füllhorn an Bands bot das „2. Pop- und Jazz-Festival“ 1973 auf dem Killesberg, mit späteren Band-Legenden wie Kraan und Udo Lindenbergs Panikorchester, mit solitären Musikern wie Albert Mangelsdorf, Volker Kriegel, Wolfgang Dauner. Oder die „Frederic Rabold Crew“, wozu sich nun in der Pauluskirche ein packender Brückenschlag über die Jahrzehnte bot: Rabold, der phänomenale Trompeter, war live mit von der Partie, im Bunde mit Fritz Heieck am Bass und Manfred Kniel an den Drums. Was das Trio bot im Zwischenreich von Jazz und Neuer Musik, war der packende Widerschein errungener Freiheit. Und das pure Gegenteil von Mainstream. Allein schon der gurgelnde, wie permanent rollende Kiesel tönende Untergrund, den Drums und Bass produzierten, wirkte wie ein Teppich, der einem jederzeit weggezogen werden kann. Dazu diese sensiblen, leuchtenden Lines aus Trompete und Flügelhorn. Da wird klar: Der Aufbruch ist nie zu Ende. Jedenfalls nicht in dieser Musik.