Der Stuttgarter Soldat Adolf Mann hat im Ersten Weltkrieg fast 1400 Briefe von der Front an seine Frau Elisabeth geschickt. Sibylle Fischer, die Tochter der beiden, blickt zurück
Stuttgart - Sibylle Fischer lebt allein, und doch ist ihre Familie immer bei ihr. Vor Goethe, Schiller und Shakespeare stehen in den Regalen Dutzende von Bilderrahmen. Die Fotos zeigen ihre Kinder und Enkelkinder, auch ihren verstorbenen Mann und ihre Eltern. Die Vergangenheit ist allgegenwärtig, wenn Sibylle Fischer in ihrem Wohnzimmer Tee in zierliche Tassen gießt und dazu Gebäck in einer Schale reicht. Besuch empfängt sie, indem sie die Hände zusammenschlägt und sagt, dass sie sich freue. Dabei leuchten ihre wachen Augen.
Sibylle Fischer ist 86 Jahre alt, an ihrer Bluse trägt sie eine fein gearbeitete Brosche. Würde sie in einem englischen Landhaus leben, würde man sie als ältere Lady bezeichnen, doch Frau Fischer wohnt am Rande von Ludwigsburg in einem Häuschen, von dem sie es nicht weit zu idyllischen Streuobstwiesen hat. Nur ist sie nicht mehr ganz so gut zu Fuß.
Die Lady aus Ludwigsburg ist die Tochter von Adolf Mann, dessen Feldpostbriefe aus dem Ersten Weltkrieg die Stuttgarter Zeitung von Montag an acht Wochen lang täglich druckt. Adolf Mann schrieb seiner in Stuttgart lebenden Freundin Elisabeth Gaiser von 1914 bis 1918, wie er den Krieg an der Westfront erlebte. Das Haus der Geschichte zeigt seine Briefe in der Ausstellung „Fastnacht der Hölle“, die am 5. April eröffnet wird. Die Schau fragt, wie die Soldaten den industriellen Krieg sahen, wie der Krieg roch, wie er schmeckte, wie sich sein Höllenlärm anhörte.
Monatelang beschäftigte sich Sebastian Dörfler, ein wissenschaftlicher Mitarbeiter des Museums, mit den Briefen Adolf Manns. In diesen schildert der Soldat mal mit radikaler Nüchternheit und analytischer Schärfe das Kriegsgeschehen – aber er schreibt auch, wie ihn albtraumhafte Bilder in seinen Erinnerungen verfolgen: „Dann plötzlich tauchten in dämmriger Nacht wieder die Leichen toter Engländer vor unserem Graben auf.“
Die Tochter blickt zurück
Aber an diesem Wintermorgen redet Sibylle Fischer nicht über den Krieg, der ihren Vater prägte, sie erzählt die Vorgeschichte ihrer Eltern – davon, in welchen Verhältnissen Adolf Mann und Elisabeth Gaiser aufwuchsen. Jene Elisabeth Gaiser, der er während des Ersten Weltkriegs seine knapp 1400 Feldpostbriefe schrieb.
Adolf Mann kommt am 21. Februar 1890 in Altshausen auf die Welt, einige Kilometer nördlich von Ravensburg. Es ist ein Dorf im Oberschwäbischen, konservativ und erzkatholisch. Nur wenige evangelische Familien leben in diesem Landstrich, zu ihnen gehört jene des Adolf Mann. Sein Vater arbeitet als Hauslehrer und unterrichtet im Martinshaus evangelische Kinder. „Mein Großvater hat die Buben und Mädchen dort auch auf die Konfirmation vorbereitet“, erzählt Sibylle Fischer, „es war eine evangelische Zelle in einem katholischen Umfeld, das war nicht immer leicht.“
Die Familie hat ein Auskommen, sie ist aber keineswegs wohlhabend – Adolf Mann hat drei Schwestern und zwei Brüder, von denen er der Mittlere ist. Der Ton ist manchmal rau, die Welt eng, sie öffnet sich für den Jungen, weil er fleißig ist und klug. Weil es in Altshausen keine weiterführende Schule gibt, besucht Adolf Mann in Kirchheim die Lateinschule. Später bereitet er sich in mehreren Seminaren auf das Abitur vor – die Kurse sollen besonders begabten Schülern auf dem Land eine Bildungskarriere ermöglichen. Damals gibt es diesen Begriff noch nicht. 1904 ereilt die Familie ein Schicksalsschlag – der Vater stirbt an Magenkrebs, und die Familie muss wenig später aus dem Haus ausziehen, das dem Lehrer vorbehalten ist.
Auch Elisabeth Gaiser muss den frühen Verlust eines Elternteils verkraften, als ihre Mutter an einer Darmtuberkulose stirbt. Elisabeth Gaiser wird am 17. Februar 1893 in Stuttgart geboren – ihre Familie ist abgesehen von der Konfession vollkommen anders geprägt als jene der Manns in Altshausen. „Ihr Vater war ein weltgewandter Mann“, erzählt Sibylle Fischer, „er arbeitete als Kunsthändler und hatte sein Büro in der Olgastraße.“ Elisabeth Gaiser wächst in einer kunstsinnigen und wohlhabenden Welt auf. Sibylle Fischer öffnet einen Karton, in dem sie Fotos, Briefe und Postkarten aufbewahrt. Zwei Karten von Elisabeth Gaisers Vater Wilhelm sind auch darunter, eine hat er Elisabeth aus Paris, die andere aus Rom geschickt.
Zwei Herzen schlagen in einem Takt
Wilhelm Gaiser veranstaltet in Stuttgart Auktionen, auch im Hotel Marquardt, das über viele Jahre lang das erste Haus am Platze war. Von 1910 an leitet Wilhelm Gaiser die Galerie, die heute unter dem Namen „Galerie Kornfeld“ in Bern und Zürich residiert. Sibylle Fischer bekommt die Ausstellungskataloge noch immer zugeschickt.
Schon im Jahr 1905 ist Adolf Manns Familie von Altshausen nach Stuttgart umgezogen. Die Manns wohnen in jener Gegend, in der später das Heslacher Schwimmbad gebaut wird. Adolf Manns jüngerer Bruder besucht in Stuttgart noch die Schule, während er selbst 1908 in Tübingen am Evangelischen Stift ein Mathematikstudium aufnimmt. „In Tübingen hat mein Vater privat gewohnt und nicht im Stift“, erzählt Sibylle Fischer. „Er hatte ein großes Freiheitsbedürfnis, weil er sich in jungen Jahren so oft einer Obrigkeit unterordnen musste.“
Beim Studium begegnet Adolf Mann einem Kommilitonen, der ebenso tiefsinnig ist wie er selbst: Konrad Gaiser, Elisabeths Bruder. Konrad Gaiser und Adolf Mann werden Freunde, gemeinsam treten sie in die Tübinger Wingolf-Verbindung ein, die auf dem christlichen Glauben gründet. Gefeiert wird auch. Im September 1910 veranstaltet die Verbindung einen Ball – Konrad Gaiser bringt seine jüngere Schwester mit, die für den Ball ein Kleid genäht hat, das bis auf den Boden hinabreicht. Die Herren müssen beim Dreivierteltakt aufpassen, wo sie ihre Füße hinsetzen.
Adolf Mann bleibt offenbar im Takt, auch als er sich nach dem gemeinsamen Tanz mit Elisabeth Gaiser unterhält. Über ihr Kleid beispielsweise, auf das sie künstliche Gänseblümchen genäht hat. Für Adolf Mann ist es Liebe – vom ersten Abend an. Kurz darauf schreibt er ein Gedicht über seine Begegnung mit Elisabeth: „Wir wiegten uns in leichtem Tanz, und plauderten dazu so frei. Und rings des Saales Lärm und Glanz, zog weltenfern an uns vorbei.“
Sibylle Fischer erinnert sich genau, was ihre Mutter über diese Zeit erzählt hat. „Die Mutter war erst 17, und sie war auf eine so stürmische Werbung nicht gefasst. Vater hatte eine mühsame Bewerbung, er war ihr eigentlich zu philosophisch.“ Dennoch wird aus Elisabeth Gaiser und Adolf Mann ein Paar – das im Herbst 1914 durch den Krieg auseinandergerissen wird. Das Gänseblümchen, im Englischen „Daisy“, wird zum Symbol ihrer Liebe. Daisy wird Elisabeths Kosename. Im Krieg findet Adolf Mann später in einer zerwühlten und zerbombten Landschaft ein Gänseblümchen – und klebt es in sein Tagebuch ein. Dort ist es noch immer.
Die StZ veröffentlicht seine Briefe – auch als Hörbuch
Am Freitag erzählen wir, wie und wo sich Adolf Mann und Elisabeth Gaiser kennenlernten. Von Montag an veröffentlicht die StZ unter dem Titel „Liebe Daisy!“ täglich einen Feldpostbrief.