Das menschliche Erinnerungsvermögen ist begrenzt. Lifelogger wollen mit Technik nachhelfen – etwa mit Kameras, die automatisch alle paar Sekunden ein Bild machen. Technisch ist das längst möglich. Doch wem nützen all die Daten am Ende?

Digital Desk: Jan Georg Plavec (jgp)

Stuttgart - Menschen schreiben Tagebücher, kaufen Souvenirs, behalten Lieblingsdinge oder machen Fotos – um bestimmte Momente, Erinnerungen und Gefühle für die Zukunft festzuhalten. Gegen das Vergessen. Denn das Gehirn ist nicht dafür gemacht, sich all das zu merken, was man gerne behalten möchte. Doch das ist ein großer Wunsch des Menschen: Das eigene Leben festzuhalten und damit auf eine bestimmte Art unsterblich zu werden.

 

Wo den menschlichen Fähigkeiten biologische Grenzen gesetzt sind, kann die Technik einspringen. Schon 1945 beschrieb Vannevar Bush in seinem Essay „As we may think“ einen „Memory Extender“, eine Art analoger Computer, bei dem Mensch und Maschine zur Erweiterung des menschlichen Gedächtnisses interagieren. Seit die Geräte digital und immer kleiner geworden sind, ist diese von Bush beschriebene Utopie teilweise Wirklichkeit geworden, unter dem Stichwort Lifelogging.

Das Leben festhalten

Lifelogging meint die Idee, dass Individuen ihr Leben umfassend festhalten. Gespeichert werden biometrische Daten, Bewegungsprofile, Fotos oder alles zusammen. In Zeiten, in denen Speicherplatz immer weniger eine Beschränkung darstellt, zudem Kameras und Messgeräte kompakter werden, wird das Prinzip Google Glass zu einer ganz realen Option: Man geht durchs Leben und nimmt wie mit Googles ständig mit dem Internet verbundenen Datenbrille alles auf, weil man möglicherweise alles später wieder ansehen will.

Hochschulen und Firmen arbeiten an entsprechenden Geräten und an Systemen, welche die Daten speichern und organisieren. Aus soziologischer Sicht stellt sich die Frage: Brauchen wir das? Und wenn ja: Was macht es mit uns? Ein wichtiges Zentrum ist die Dublin City University. Dort forscht man etwa an Algorithmen, mit denen die Bilddaten durchsucht werden können.

Der Computerwissenschaftler Cathal Gurrin probiert es selbst aus. Gurrin hängt sich seit mehr als sieben Jahren tragbare Kameras um den Hals, die ganz von alleine pro Minute drei Bilder von seinem Leben machen, quasi aus der Perspektive, mit der er selbst die Umwelt sieht. Mehr als 14 Millionen Bilder sind bisher zusammengekommen. Jetzt wollen Gurrin und sein Team herausfinden, ob und wie sich das Leben anhand der Daten verbessern lässt. Mit Algorithmen identifiziert die Software „Momente“ – bei Gurrin sind das etwa 12 000 pro Jahr. Doch selbst mit einer eigens entwickelten Suchmaschine braucht er mehr als zwei Minuten, um aus den Bildern von zweieinhalb Jahren einen bestimmten Moment wiederzufinden.

Wie Daten das Leben verbessern sollen

Anhand der Bilder kann man auch feststellen, welchen Anteil Lebenszeit Bildschirmarbeit, Autofahren oder Spaziergänge haben und seinen Lebensstil entsprechend ändern. Audiodaten, berichtete Gurrin bei einer Konferenz 2011, zeichne er nicht auf, weil sonst niemand mit ihm rede – beim Lifelogging muss man immer auch die Umwelt mitdenken, die sich womöglich vor Überwachung fürchtet.

Der Grundlagenforschung ist Lifelogging längst entwachsen. Inzwischen stehen Anbieter für den Massenmarkt in den Startlöchern, auch jenseits von Google mit seiner tragbaren Internetbrille – darunter das crowdfinanzierte Unternehmen Memoto, das zu seiner Kamera gleich einen cloudbasierten Speicherdienst mit dazu anbietet, oder die von Microsoft unterstützte SenseCam.

Die mit den Lifeloggern nicht ganz überschneidungsfreie „Quantified Self“-Bewegung misst biometrische Daten wie den Puls, um Gesundheitsrisiken vorzubeugen oder dokumentiert via App und GPS-Sender im Smartphone Laufstrecken. Das Armband Jawbone misst, wie viele Schritte man am Tag geht und wie lange man schläft. Ach diese Daten lassen sich auswerten. Oder das Armband empfiehlt, doch mal wieder in die Kantine zu laufen statt mit dem Aufzug zu fahren. Allerdings sind solche Geräte und Anwendungen Stückwerk; ein zentrales Gerät, das relevante Daten gesammelt erhebt, gibt es noch nicht – anders als für Lifelogging geeignete Kameras.

Auch in Deutschland wird geforscht

In Deutschland hat sich bisher die Hochschule Furtwangen in der Lifelogging-Forschung hervorgetan. Stefan Selke arbeitet an einem Grundlagenwerk zu dem Thema. Der Soziologe fragt nach den Folgen von Lifelogging für menschliches Verhalten und Erinnern. Selke ist skeptisch, was den Nutzen von Lifelogging als Erinnerungsstütze angeht. „Der Lifelogger ist [...] nie selbst im Bild, er kann sich selbst zunächst nicht zum Gegenstand der Erinnerung machen“, schreibt Selke in einem 2013 verfassten Aufsatz: „Obwohl die Entwickler in der Erinnerungshilfe eine der großartigsten Funktionen von Lifelogging sehen, ist gerade der Nutzen für die biografische Erinnerung beschränkt. Lifelogging ist vielmehr eine technische Dokumentationsfunktion“. Die so gespeicherten Daten „funktionieren nach anderen Gesetzmäßigkeiten als die menschliche Erinnerung“.

Mit seinen Studenten hat Selke in einem Projektseminar gezeigt, was mit dem Stand heutiger Technik möglich ist. Eine Online-Plattform, die automatisch generierte Fotos von Lifeloggern nach geogaphischen Daten zusammenfasst war ebenso dabei wie eine Smartphone-App zum Sammeln und Zusammenfügen von Datensätzen. „Man muss Handlungsmächtigkeit abgeben, um etwas zu gewinnen“, fasst Selke die Erkenntnisse zusammen. Ein Beispiel: Selkes Student Ingo Just hing sich während eines vierwöchigen Neuseeland-Urlaubs eine Kamera um den Hals und ließ die Kamerasoftware entscheiden, welche Momente festgehalten werden. Das Ergebnis: ein Urlaubsfilm aus lauter Einzelbildern. „Man hat Fotos, die man sonst nie gemacht hätte“, sagt Just. 30 000 Bilder hat die Kamera in den vier Wochen geschossen.

Es wird noch Jahre dauern, ehe der Durchschnittsbürger sein komplettes Leben mitschneidet, vermutet Selke. Dass Lifelogging künftig eine Rolle spielen wird, sei aber wegen der kommerziellen Interessen absehbar. So bieten etwa in Großbritannien Autoversicherungen schon heute Telematik-Tarife an, die sich nach dem via GPS-Signal aufgezeichneten Fahrverhalten des Versicherten errechnen. Wer nachweislich defensiv fährt, zahlt weniger. Während solche Lösungen eher der Versicherung als den Kunden nutzen, haben Autofahrer eine andere Art von Lifelogging in vielen Ländern selbst zum Standard gemacht: Autokameras. Sie filmen automatisch, sobald das Auto fährt. Mit diesen Bildern werden in Russland Unfälle aufgeklärt und korrupten Polizisten das Handwerk gelegt. Als im Februar 2013 ein Meteorit über Russland niederging, gab es davon eine Unmenge von Videobildern – allesamt aus Autos heraus gefilmt.