Seine Theorie zum Spacherwerb begründete Noam Chomskys Ruf als Linguist; bekannt wurde er als Kritiker von Ungleichheit und amerikanischer Politik. An diesem Freitag wird er 90 Jahre alt.

Stuttgart - Das internationale Ansehen von Noam Chomsky, der an diesem Freitag seinen 90. Geburtstag feiern kann, erstreckt sich auf drei Bereiche: Sprachwissenschaft, Philosophie und Politik. Der am 7. Dezember 1928 in Philadelphia/Pennsylvania geborene Spross einer jüdischen Mittelklassefamilie gilt seit über sechzig Jahren als einer der bedeutendsten US-amerikanischen Intellektuellen.

 

Die Grundlagen dafür wurden schon in der Kindheit gelegt: Chomskys Vater hat eine Grammatik des Hebräischen verfasst, im Elternhaus war man Anhänger des demokratischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt und interessierte sich für den linken Flügel der zionistischen Bewegung. Der junge Chomsky besuchte eine von der Reformpädagogik inspirierte Schule und begann 1945 an der University of Pennsylvania ein Studium der Sprachwissenschaft, Mathematik und Philosophie, das er an der Harvard University fortsetzte und 1955 mit einer sprachwissenschaftlichen Doktorarbeit beendete, die schon viel von seinen späteren Ideen enthält. Von 1961 bis zu seiner Emeritierung war er Professor für Linguistik und Philosophie am renommierten Massachusetts Institute of Technology.

Sprache ist in der menschlichen Natur angelegt

1957 erschien das Buch „Syntactic Structures“ (deutsch 1973 als „Strukturen der Syntax“), das mit den folgenden, bald ins Deutsche übersetzten Werken „Aspekte der Syntax-Theorie“ (1965), „Cartesianische Linguistik“ (1966) und „Sprache und Geist“ (1968) eine Revolution der Sprachwissenschaft einleitete. Wie wird aus dem sprachlosen neugeborenen Kind innerhalb weniger Jahre ein sprechendes Wesen, das in seiner Muttersprache grammatisch korrekte Sätze formulieren und verstehen kann? Die in den 1950er Jahren in den USA vorherrschende Theorie des Behaviorismus hatte diese Frage so beantwortet: durch Lernen, durch Nachahmung dessen, was das Kind in seiner Umwelt hört. Chomsky war dagegen der Ansicht, dass man damit nicht erklären könne, wie ein Sprecher einer beliebigen Sprache mit einer endlichen Anzahl von Regeln eine unendliche Anzahl von Sätzen produzieren kann und wie ein Hörer Sätze versteht, die er zuvor nie gehört hat. Seine Gegenthese lautet deshalb, dass wir unsere Sprachfähigkeit nicht erlernen, sondern immer schon über sie verfügen. Der Spracherwerb des Kindes ist nichts anderes als die Entfaltung einer Kompetenz, die in seiner biologischen Natur schon angelegt ist. Die Grundstrukturen aller auf der Erde gesprochenen Sprachen sind gleich, weshalb Chomsky seine Theorie auch als Universalgrammatik bezeichnet.

2010 erhält er den Erich-Fromm-Preis in Stuttgart

Damit ergriff Chomsky Partei in einer Auseinandersetzung innerhalb der Philosophie, die bis ins 17. Jahrhundert zurückreicht. Während die Empiristen wie John Locke oder David Hume behaupteten, dass „nichts im Verstand ist, was nicht zuvor in den Sinnen war“, vertrat ihr die Gegenpartei des Rationalismus begründender Gegenspieler René Descartes die Auffassung, dass grundlegende Ideen des menschlichen Geistes angeboren seien. Dem schließt sich Chomskys „cartesianische Linguistik“ an. Unwidersprochen ist sie nicht geblieben: Die sozial-pragmatische Theorie des Spracherwerbs, wie sie der in Leipzig forschende Anthropologe Michael Tomasello vertritt, versteht Sprache nicht wie Chomsky als ein autonomes, mit mathematischen Modellen beschreibbares System, sondern wie Ludwig Wittgenstein als hervorgegangen aus einer Lebenswelt des gemeinsamen Handelns.

Außerhalb der akademischen Sprachwissenschaft ist Chomsky einem breiten Publikum als heftiger Kritiker der US-amerikanischen Politik seit dem Vietnamkrieg bekannt geworden. „Ich glaube immer noch an das, woran ich auch schon als Teenager geglaubt habe“, hat er einmal in einem Interview bekräftigt. Der libertäre Anarchismus, den Chomsky vertritt, hat ihm in den USA einmal eine Gefängnisstrafe wegen Nichtbezahlens von Steuern eingetragen, andererseits 2010 in Stuttgart den Erich-Fromm-Preis beschert. Der gemeinsame Nenner zwischen Chomskys sprachphilosophischen und politischen Überzeugungen dürfte seine Behauptung von einer alle Kulturen übergreifenden gemeinsamen menschlichen Natur sein, die ihn auch immun gegen den postmodernen Kulturrelativismus gemacht hat.