Viele mehrsprachige Kinder tun sich in deutschen Schulen schwer, wie eine Dissertation aus Stuttgart zeigt. Die Linguistin Seda Tunç hat mehrsprachige und einsprachige Kinder an Gymnasien und Hauptschulen studiert. Ihre Ergebnisse stellte sie nun während der interkulturellen Woche in Stuttgart vor.

Stuttgart - Stuttgart ist eine Stadt, in der über 120 Sprachen gesprochen werden. Mehr als 50 Prozent der Kinder und Jugendlichen, die hier leben, haben Migrationserfahrung. Oft wachsen sie nicht nur mit einer, sondern zwei oder mehr Sprachen auf. Artemis Alexiadou von der Universität Stuttgart und die Gymnasiallehrerin Seda Tunç beschäftigten sich am Donnerstagabend im Stuttgarter Rathaus mit der Frage, wie man im Bildungssystem mit Mehrsprachigkeit umgehen sollte.

 

Lange Zeit waren viele Wissenschaftler der Meinung, dass zweisprachige Kinder keine der Sprachen wirklich gut sprechen könnten. Die Sprache der Eltern, die Erstsprache, würde nur zum Teil erlernt werden, und auch im Deutschen, der Zweitsprache, gebe es große Lücken.

Im Unterricht tun sich mehrsprachige Kinder oft schwer

„Grundsätzlich überfordert es Kinder nicht, mit mehr als einer Sprache aufzuwachsen“, sagt Alexiadou dagegen. Allerdings stoßen diese Kinder auf Schwierigkeiten in der Schule. Was eine Chance sein sollte – von Anfang an mit zwei Sprachen in Kontakt zu sein – wird im Unterricht zur Herausforderung: Einerseits sollen die Schüler Deutsch lernen, andererseits müssen sie dem Unterricht folgen. Ohne Förderung erleben viele zweisprachige Kinder schon in der Grundschule Fehlschläge und verlieren die Freude am Lernen.

Seda Tunç untersuchte in ihrer Promotion mehrsprachige Kinder, die auf die Hauptschule oder das Gymnasium gehen, und verglich die Ergebnisse mit Mitschülern, die nur eine Sprache sprechen. Dabei fand sie heraus, dass es Kindern leichter fällt, Deutsch zu lernen, wenn ihre Herkunftssprache der deutschen Sprache strukturell ähnelt. Außerdem lernen Kinder die Zweitsprache besser, wenn sie ihre Herkunftssprache beherrschen. Die Ergebnisse der zweisprachigen Gymnasiasten zeigen, dass sie genauso gut Deutsch sprechen wie ihre einsprachigen Altersgenossen. Ihre Herkunftssprache haben sie sich aber nur in Bruchstücken erhalten.

Alarmierend: Die Halbsprachigkeit der Hauptschüler

Bei ihrer Forschung sind Tunç aber vor allem die Ergebnisse der Hauptschüler aufgefallen. Zweisprachige Hauptschüler weisen sehr häufig eine „Semilingualität“ auf, eine Halbsprachlichkeit also. Sie beherrschen weder ihre Erstsprache noch Deutsch gut. Wie es dazu kommt, ist noch unklar. „Eine Möglichkeit ist, dass die Kinder beim Erwerb der Zweitsprache unzureichende Fertigkeiten in ihrer Erstsprache besaßen“, erklärt Tunç. Aber auch einsprachige Hauptschüler haben Probleme, sich bildungssprachlich auszudrücken. Deshalb kann Mehrsprachigkeit nicht die einzige Ursache der Lücken sein.

In der anschließenden Diskussion mit dem Publikum forderte Tunç, dass mehr auf die zweisprachigen Kinder eingegangen werden müsse. Zudem sollten Regel- und Sprachunterricht stärker verzahnt werden. Doch man muss auch den Erwerb der Erstsprache fördern, denn nur so können die Kinder überhaupt eine Zweitsprache lernen. Alexiadou weist deshalb darauf hin, wie wichtig es ist, dem Kind vorzulesen und sich mit ihm zu unterhalten. Ansonsten bieten Konsulate und Kulturvereine auch Sprachkurse für Kinder an.

Ein Projekt aus Hamburg könnte Tunçs Ansicht nach wegweisend für Baden-Württemberg sein: Dar Projekt „Hamburger Verfahren zur Analyse des Sprachstandes bei Fünfjährigen“ (HAVAS 5) untersucht, wie weit die Sprachentwicklung bei mehrsprachigen Fünfjährigen vorangeschritten ist. Dabei werden die Fähigkeiten in beiden Sprachen ausgewertet. Je nach Ergebnis wird das Kind in seiner Erst- oder in seiner Zweitsprache gefördert. So werden Verständigungsprobleme in der Schule verhindert und die Mehrsprachigkeit als das erkannt, was sie ist: eine kostbare Ressource.