Klopapier für den Puppenpopo, Mini-Kartoffeln, Blaukraut in der Mini-Konservendose: Linus Schnabel beliefert Kinderkaufläden mit Miniatur-Lebensmitteln. Wie im echten Leben heißt es auch bei ihm: Handel ist Wandel.

Region: Verena Mayer (ena)

Die Kinder durften den ganzen Tag nicht ins Wohnzimmer. Als es Abend wurde, sah man in den dunklen Abendhimmel hinaus, ob kein blasser Schein zu sehen war. Endlich kam der Papa und sagte, man dürfte jetzt hinunterkommen, aber ganz leise und zuerst noch in die Gesindestube gegenüber dem Wohnzimmer. Erwartungsvolles Schweigen. Da klingelte es, beide Türen gingen auf, und man stand und schaute und sah einen strahlenden Christbaum und näherte sich zaghaft der märchenhaften Pracht. Es war ein Kaufladen da mit Schubladen und Regalen, vollgefüllt mit allen erdenklichen Herrlichkeiten aus Zucker und Marzipan, und ein Verkaufstisch mit Waage und Gewichtchen. (aus: „Irmas Erinnerungen“ von Corrina Jacker)

 

Möglingen - Linus Schnabel jagt eine Kartoffel. Kaum aus dem Netz entwischt, ist sie auch schon auf und davon. Hüpft zum Regal mit den Ketchup-Flaschen und weiter zu der Kiste mit den Dosentomaten. Boing, boing, boing, bis sie, boing, unterm Regal mit den Waschmitteln verschwunden ist. Solche Mätzchen kann Linus Schnabel, 53, gerade gar nicht brauchen. Die Kartoffeln (aus Plastik) müssen raus zu den Kunden. Und die Fruchtzwerge (ohne Inhalt) und die Fischstäbchen (aus Holz) ebenfalls. Gerät die Lieferkette so kurz vor Weihnachten ins Stocken, gibt es bei den jungen Wiederverkäufern an Heiligabend lange Gesichter. Nix da, o du fröhliche.

Der Kinderkaufladen mag älter als 200 Jahre sein. Und unter den Christbäumen müssen heute Playstations und Eisprinzessinnen liegen. Trotzdem, lernt man in der Miniaturlebensmittelfabrik von Linus Schnabel, hat die Idee des Miniaturlebensmittelmarkts nichts von ihrem Reiz verloren und nichts von ihrem Nutzen. Aber, das lernt man bei Linus Schnabel ebenfalls: Auch in der Geschäftswelt der kleinen Leute gilt die Kaufmannsweisheit Handel ist Wandel.

Eine Klingel singt, als sich die Türe öffnet. In die Nase fliegt der Duft von Zichorie, ganz frisch eingetroffen muss sie sein, mmhhh. „Guten Tag, gnädige Frau!“ – „Guten Tag!“ Der Schinken hinter der Theke, wie er glänzt, ein Traum. „Davon ein Stück, bitte!“ – „Sehr gerne, darf es außerdem etwas sein?“ – „Ein Pfund Butter, bitte, von der guten!“ – „Selbstverständlich, vielleicht auch ein paar dieser Nelken?“ Die Frau hinter der Theke in der gestärkten Schürze langt nach der Schütte mit dem Gewürz und reicht es der Kundin. Gut sehen sie aus. Aber wird das Geld reichen? Im Beutel klimpern nur drei Kreuzerlein. Lieber erst einmal ein Paket Mehl. Hach, wie das staubt! Und hach, wie das Spaß macht!

Wer spielt, der lernt.

Wer spielt, lernt. Wer lernt, versteht. Oder, wie es der Pädagoge Friedrich Fröbel vor etwa 200 Jahre formulierte: „Spiel ist die höchste Form der Kindesentwicklung.“ Wer also Kaufladen spielt, lernt die Welt der Großen verstehen. Wie man miteinander umgeht (respektvoll, im Idealfall). Wie man bekommt, was man will (mittels Kommunikation, oft). Was der Preis dafür ist (Geld, zumindest im Laden). Wie es ist, der andere zu sein (interessant, meistens).

Natürlich muss man kein Pädagoge sein, um das zu wissen. Aber als der Kaufladen noch nicht erfunden war und auch die moderne Pädagogik noch nicht, gab es auch die Kindheit noch nicht. Kinder waren dazu da, gehorsam zu sein, bei der Arbeit zu helfen und gezüchtigt zu werden. Das änderte sich, als der Geist der Aufklärung umging und auch die Erziehungskräfte erfasste. Kinder wurden zu eigenständigen Persönlichkeiten, die eigene Bedürfnisse und individuelle Fähigkeiten haben. Aus dieser Zeit, dem ausgehenden 18. Jahrhundert, stammen die ersten Kaufläden für Kinder (vorerst allerdings nur für die der besser betuchten Familien).

Natürlich staubte darin kein Mehl. Die weiße Masse in dem Säckchen an der Theke war Pappmaschee. Der glänzende Schinken war gefertigt aus Gips. Und die Frau in der gestärkten Schürze war nur eine Puppe. Größer war das neue Spielzeug anfangs nicht. Aber für den freien Lauf der Fantasie reichte all dies allemal. „Vielen Dank“, kann also die puppenhafte Verkäuferin zu ihrer jungen Kundin sagen. „Auf Wiedersehen“, kann diese entgegen, und in Personalunion auch die imaginäre Türglocke spielen. „Ringeling.“

Alles leer, alles Attrappe

Linus Schnabels kleine Firma Polly Spielwaren befindet sich am Rande des Möglinger Gewerbegebiets. Der Verkaufsraum sieht aus wie ein riesiges Kinderzimmer. Kleine Einkaufskörbe, kleine Holzkisten, kleine Stoffbeutel. Perfekt für kleine Rotkohl-Dosen, kleine Müsli-Schachteln und kleine Nutella-Becher. Alles leer, alles Attrappe. Die Mini-Würstchen allerdings sind aus Zuckerguss. Und die Linsen, sorgfältigst abgefüllt in klitzekleine Tüten, sind echt. Wie der Reis und die Nudeln in den anderen kleinen Kisten

Als Linus Schnabel ins Kaufladen-Business eingestiegen ist, waren seine selbst fabrizierten Röstzwiebelwürste gefragt. Und die goldbraunen Hähnchen. Eine Sahnetorte aus jener Zeit hat der Chef in einer Vitrine ausgestellt. Man sieht gleich, dass da einer vom Fach ist. Der Meister war in großen Konditoreien auf der ganzen Welt zum Einsatz. Saudi Arabien, Vereinigte Staaten und so. Bis er 1995 beschloss, in der Heimat in Marzipanminiaturen zu machen. Aber, wie man sieht: Marzipanwurst war gestern.

Schlimm, schlimm, schlimm, könnte man lamentieren. Als ob es nicht genug Verpackungsmüll gebe. Müssen sich Dosen, Tüten und Plastikflaschen auch noch im Kinderzimmer türmen? Doch abgesehen davon, dass die Mini-Waren erst nach mannigfachem Gebrauch entsorgt werden, muss man Urs Latus hören. Der wissenschaftliche Mitarbeiter im Nürnberger Spielzeugmusem hat viele Ausstellungen zum Thema gestaltet, er weiß: „Kinderkaufläden spiegeln immer die Warenwelt ihrer Zeit wider.“

Zigaretten gibt es keine

Hölzerne Einrichtungen werden im Lauf der Jahrzehnte gegen Mobiliar aus Kunststoff getauscht. Die Waren sind in Regalen zur Schau gestellt, nicht mehr in Schüben verwahrt oder in Säcken und Fässern. Die Kernseife macht dem Geschirrspülmittel Platz. Frischer Sago weicht eingeschweißter Fertigpizza. Und statt Lebertran aus der Glasflasche gibt es heute Actimel im Kunststofffläschchen. Früher hatte Linus Schnabel auch Bier im Angebot, Löwenbräu. „Aber“, sagt er, „dass kann man nicht mehr bringen.“ Zigaretten gibt es bei ihm auch nicht. Nicht mal die aus Schokolade.

Worauf Linus Schnabel ziemlich stolz ist, ist sein neues Kartoffelnetz. Er musste lange suchen, bis er das richtige Material dafür gefunden hatte. Die gängigen Netzfolien sind viel zu breit, und für Hunderte von Meter, in denen die Rollen normalerweise bemessen sind, hat er nie und nimmer Bedarf. Linus Schnabel ist ja kein Kartoffelbauer. Was ihm auch richtig gut gefällt: seine Vollmilchschokolade. Die Plastiktafel sieht so täuschend echt aus, dass Schnabel schon Altersgenossen beim Reinbeißen ertappt hat. Aktuell tüftelt der Konditormeister an einem Toastbrot. Wie er die Scheiben haben will, weiß er schon (aus Plüsch), die Lizenz für den Druck der Verpackung en miniature (Golden Toast) hat er wie immer gerne und kostenlos bekommen, aber der Verschluss bereitet ihm Kopfzerbrechen. Klein wie im Original geht nicht, viel zu gefährlich. Groß wie eine Wäscheklammer ist auch nichts, viel zu klobig. Wie bei den Großen: Der Kunde muss mit immer neuer Ware gelockt werden.

Wer die aktuelle Liste der „Angesagtesten Spielzeuge“ anschaut, die der Bundesverband des Spielwaren-Einzelhandels jährlich veröffentlicht, entdeckt darauf eine Barbie, die auf einem ferngesteuerten Hoverboard durch die Gegend fliegt. Und einen zotteligen Drachen, der (ungefährliches) Feuer spuckt. Und Stoffküken, die sich auf interaktive Weise aus ihrem Ei picken. Sind das die Welten, in denen die Kleinen von heute fürs Leben lernen?

Französischer Frischkäse für 1,34 Euro

Mal überlegen: Mit den Steckklötzchen von Lego konnten Kinder seit 1932 tolle Türme und beeindruckende Bauten errichten. Die Kinder von heute können mit Lego auch Freizeitparks gestalten und ein Kreuzfahrtschiff (auch das, übrigens, gehört dieses Jahr zum angesagten Spielzeug) auf große Fahrt schicken. Oder Playmobil. Die Figuren, die 1974 in die Kinderzimmer zogen, mussten lange nicht viel mehr tun, als mit ihrer Helmfrisur auf einem Pferd sitzen oder eine Schubkarre in der Hand halten. Die Männchen von heute verlustieren sich in fantasievollen Zoos und ausladenden Shoppingcentern (angesagtes Spielzeug 2013).

Wahrscheinlich muss sich die gute alte Tante Emma keine Sorgen um ihre Zukunft machen, wenn sie sich an die alte Redensart der guten Unternehmer hält: Wer nicht mit der Zeit geht, geht mit der Zeit.

In den Geschäften, die ihre Ware von Linus Schnabel beziehen, kann seit Neuestem digital bezahlt werden. Zum Beispiel: Eine Zehnerpackung Capri Sonne – piep – kostet 2,49 Euro. Französischer Frischkäse – piep, 1,34 Euro. Einmal Nutella für – piep – 2,65. Macht zusammen, ratter, ratter, klingel, doing: 6,48 Euro, bitteschön! „Höllenwahnsinn“, murmelt Linus Schnabel und strahlt sein I-Pad an, das dank nigelnagelneuer App gerade eine Barcode scannende und Bon erstellende Kaufladenkasse ist. Da macht sogar das Bezahlen Spaß. Bar oder mit Karte? Geht beides, gar kein Problem. Piep.

Dass es in der Miniatur-Branche auch jede Menge Bio-Waren gibt – Pasta von Rapunzel, Würstchen von Ökoland unter anderem – und Obst und Gemüse aus Holz, sogar Dönerspieße sind erhältlich , sei an dieser Stelle auch erwähnt.

Die Verkäufer in den kindhabergeführten Geschäften sind immer fröhlich. Sie strahlen, wenn lange nach Feierabend ein Kunde auf der Matte steht, und keine Stunde ist ihnen zu früh, um auch sonntags hinter der Theke zu stehen. Und die Kundschaft: immer höflich, nie ungeduldig. Niemals würde es jemand wagen, seine Einkäufe im Internet zu erledigen. Wer will schon verödete Kinderzimmer!

Warum fragt man sich, wenn man so darüber nachdenkt, lernen die Großen nicht auch von Kleinen? Wenigstens ein bisschen.