Zwischen Suhrkamp-Krise und Nobel-Eklat: Was bleibt von der Literatur der zu Ende gehenden Dekade? In unserer Bildergalerie finden sie die Romane, die die wichtigsten Tendenzen und Entwicklungen abbilden.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Eine der saftigsten Geschichten des Jahrzehnts hat ausgerechnet die Institution geschrieben, die dafür zuständig ist, auszuwählen, was unter Ewigkeitsgesichtspunkten Bestand hat. 2017 hat der Zündfunke der Metoo-Bewegung das Gemisch aus sexueller Übergriffigkeit, Mauschelei und Dünkel in Brand gesetzt, das die für den Literaturnobelpreis zuständige Schwedische Akademie bis dahin hinter ihren zuweilen hochfahrend-eigensinnigen Entscheidungen – Bob Dylan! – verbergen konnte. Es folgte das Jahr ohne Nobelpreis, weshalb die höchste Auszeichnung der literarischen Welt 2019 gleich zweimal vergeben wurde, an Olga Tokarczuk und Peter Handke.

 

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In die Chronique scandaleuse der zehner Jahre gehört auch der nur knapp vermiedene Untergang des Flaggschiffs der intellektuellen Kultur der Bundesrepublik. 2012 eskalierte der Gesellschafterstreit im Hause Suhrkamp zwischen Ulla Berkéwicz und dem Hamburger Unternehmer Hans Barlach. Man kennt die Dynamik aus Slapstickfilmen: Es fängt mit kleinen Stichen an und endete mit dem Zusammenbruch ganzer Häuserzeilen. Ein Streit um die Warm- oder Kaltmiete der repräsentativen Verlegerinnenvilla in Berlin schaukelte sich zu einem Vernichtungskampf auf und führte Suhrkamp in die Insolvenz. Mit der Umwandlung des Traditionsverlags in eine Aktiengesellschaft trickste Berkéwicz ihren Widersacher aus. Suhrkamp überlebte, und zur wirtschaftlichen Genesung trug sicher auch einer der großen Bucherfolge des Jahrzehnts bei: Elena Ferrantes neapolitanische Familiensaga „Meine geniale Freundin“.

Und dann hat es in der deutschen Literatur „Tschick“ gemacht

Wenn man das Sieb mit der Literatur der vergangenen zehn Jahre schüttelt, bleibt manche Perle zurück. Im Zeichen weltweiter Migration erblüht eine Weltliteratur, in der hybride kulturelle Identitäten belebende Kraft entfalten. Die besten deutschen Romane schreiben aus Osteuropa stammende Autorinnen und Autoren wie Nino Haratischwili, Katja Petrowskaja, Terézia Morá oder Sasa Stanisic. Lebenserzählungen werden zur bestimmenden Literaturform. Während die Bildspeicher sozialer Netzwerke mit Momentaufnahmen alltäglichen Selbstgefühls geflutet werden, entstehen auf autobiografischem Grund monumentale Erzählwerke wie Andreas Maiers Wetterau-Zyklus oder Frank Witzels buchpreisprämierter eigenwilliger Heimatroman „Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969“.

Wer nicht auf der Suche nach dem eigenen Selbst ist, versucht an die Erfolgsgeschichte von Wolfgang Herrndorfs „Tschick“ anzuknüpfen – zumeist vergeblich. Oder er blickt in den Abgrund der Zukunft. Der Aufstieg des Populismus, die Krise der Demokratie, der Klimawandel liefern den Stoff düsterer Dystopien, die die Gegenwart zu Ende denken; ein dunkler Höhe- oder je nachdem Tiefpunkt: Sybille Bergs „GRM“.

In die Zeit fällt auch ein besorgniserregender Leserschwund. Von 2013 bis 2017 gingen dem Buchmarkt 6,4 Millionen Käufer verloren. Ein gewichtiger Grund dürfte sein, dass den Geschichten zwischen Buchdeckeln Konkurrenz durch solche auf dem Bildschirm erwächst. Serien beerben den Roman. Das muss nicht zum Schaden der Literatur sein. Die Serialisierung beschert etwa Margaret Atwoods „Handmaid’s Tale“ einen zweiten Frühling. Eine Autorin wie Juli Zeh wiederum beherrscht die narrativen Kniffe von Drehbüchern virtuos, was ihrer Gesellschaftsstudie „Unterleuten“ zu enormer Wirkung verhilft. Vermutlich wird man das im kommenden Hölderlin-Jahr noch öfter hören: „Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch“.

In unserer Bildergalerie finden Sie die sieben Titel, die repräsentativ für die bestimmenden Tendenzen der zeit stehen.