Lesung im kleinen Kreis: „Literatur im Salon“ ist der Titel einer am 6. Juni beginnenden Reihe, deren Charme darin besteht, dass Stuttgarter Bürger ihre Wohnung für öffentliche Veranstaltungen zur Verfügung stellen.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Zu den vielen bemerkenswerten Eigenschaften, mit denen Literatur ihre Liebhaber belehnt, zählt die Lust, sich im Leben fremder Menschen umsehen zu können: Leser bewegen sich ungezwungen durch das Interieur verborgener Seelenräume, gewinnen intimste Einblicke und werden Zeuge unerhörter Dinge, zu denen man sich sonst, wenn überhaupt, nur mit gedämpfter Stimme, hinter zugezogenen Gardinen oder verschlossenen Türen bekennt. Es spricht also vieles dafür, Menschen für die Bücher zu gewinnen, und eine, die mit unermüdlichem Eifer daran arbeitet, ist die Leiterin des Stuttgarter Schriftstellerhauses, Astrid Braun. Arbeitete sie im letzten Jahr daran, die Stadt von den Vorzügen der kollektiven Lektüre eines Buches – Margriet de Moors „Sturmflut“ – zu überzeugen, so führt sie nun an jene Orte, an denen sich Privates und Öffentliches schneiden.

 

„Literatur im Salon“ ist der Titel einer vom 6. Juni an beginnenden Reihe, deren Charme darin besteht, dass Stuttgarter Bürger ihre Wohnung für öffentliche Lesungen zur Verfügung stellen. Die Sphäre der zum Publikum versammelten Privatleute steht am Anfang der bürgerlichen Öffentlichkeit. Daran knüpft das Konzept an wie an die begrenzten räumlichen Möglichkeiten des eigenen Domizils. „Das Schriftstellerhaus hat ja selbst Saloncharakter, hier kann sich niemand in der Masse verstecken, weder Autor noch Leser“, sagt Astrid Braun. Diese konzentrierte Form des Austausches über die eigenen Grenzen hinauszutreiben ist das Anliegen ihrer neuen Unternehmung: „Wir wollen unsere Seele über die Stadt breiten.“

Erst nach dem Kauf der Karte erfährt man den Ort der Lesung

Vom Reiz dieses Angebots ließen sich auf Anhieb über Mund-zu-Mund-Propaganda genügend Gastgeber überzeugen, ihr Wohnzimmer, ihre Bibliothek oder ihren Garten für eine der zwölf Lesungen zu öffnen. Rund 25 Besuchern muss Platz geboten werden, Wein und Häppchen inbegriffen ebenso wie die Zusicherung der Veranstalter, für einen geordneten Rückzug zu sorgen: „Niemand soll von weinseligen Literaturfreunden, die die Nacht zum Tag machen, überfordert werden“, sagt Braun.

Was für die Pariser Gesellschaft Prousts einmal der Salon der Madame Verdurin war, wird für Stuttgarter vielleicht bald die Wohnung der Madame XY aus Botnang: ein Ort, an dem man den Exponenten des literarischen Lebens näher als üblich kommt, mit dem leichten Kick, erst nach dem Kauf der Karten zu erfahren, wohin man sich begeben muss.

Wie es sich für die intime Vergesellschaftung von Autor und Leser gehört, liegt der Schwerpunkt des Programms auf der lokalen und regionalen Literaturgeschichte, die schon immer mit dem Großen und Ganzen verflochten war, ob es diesem passt oder nicht. Fritz Endemann etwa wird sich an einem Abend mit Heinrich Heines Polemiken über die schwäbische Dichterschule befassen. Über die ehemaligen Stipendiaten des Schriftstellerhauses hat ohnehin ein nicht unbeachtlicher Teil der jungen deutschen Literatur eine leichte schwäbische Drift erhalten, der Kölner Autor Gunther Geltinger zum Beispiel, der den Salon eröffnet. Joachim Zelter, Annette Pehnt, Walle Sayer, Sandra Hoffmann werden folgen – wo auch immer. Besonders interessant versprechen die Abende mit Anna Katharina Hahn und Heinrich Steinfest zu werden, beide wollen den Salon nämlich gewissermaßen als Probelauf für eben entstehende Werke nutzen.

In Stuttgart läuft bereits viel auf privater Ebene

Eine regionale Literaturbetrachtung bleibt unvollständig ohne das Thema Migration. Allerdings blickt man dabei meistens nur in eine Richtung. Auf welch verschlungene Wege aber dieses Thema führen kann, zeigt sich bei einem Autor wie Achim Wagner, der seit einem Stipendienaufenthalt in Istanbul zwischen der türkischen Hauptstadt und Berlin hin- und herpendelt und Gedichte in türkischer Sprache veröffentlicht. So viel darf man schon verraten: er wird sie bei einer griechischen Gastgeberin vortragen.

Dem emanzipatorischen Potenzial der Institution des Salons und der Rolle, die sie einmal im gesellschaftlichen Leben Stuttgarts gespielt hat, ist ein Abend mit Irene Ferchl gewidmet. Dass man dabei nicht immer nur an Innenräume denken sollte, wird ein Streifzug durch die Dichtergärten der Stadt mit der Literaturwissenschaftlerin Alexandra Birkert erweisen.

Bei der Vorbereitung der Reihe war Astrid Braun erstaunt, wie viel in Stuttgart auf privater Ebene bereits im Fluss ist: „Da gibt es Klavierabende mit Lyrik, diese Stadt ist äußerst kulturfreudig, auch abseits der einschlägigen Adressen.“ Ihr Bestreben ist, diese Initiativen zu verstetigen und vor allem weiteren Kreisen zu öffnen. Eine Mitarbeiterin der Caritas wurde bereits aufmerksam. Sie könne ein Wohnzimmer im Obdachlosenheim anbieten. Astrid Braun hat sich die Adresse schon notiert.