Der britisch-japanische Autor Kazuo Ishiguro bekommt den Literaturnobelpreis. In Deutschland wurden seine Werke vor allem durch Verfilmungen bekannt. Höchste Zeit, die Originale zu lesen.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - „Der begrabene Riese“ war der letzte in Deutschland erschienene Roman von Kazuo Ishiguro überschrieben. Man könnte diesen Titel auf den britisch-japanischen Autor selbst beziehen: Denn wiewohl sein Werk vielfach preisgekrönt wurde, blieb dessen Größe und Bedeutung bisher eher im Verborgenen. Mit dem Literaturnobelpreis, den ihm am Donnerstag die Schwedische Akademie verliehen hat, wird sich das ändern. Zu entdecken ist ein Werk, dessen stilistischer Glanz die dunklen Seiten der menschlichen Seele ausleuchtet. Bekannt wurde sein Booker-Prize-prämierter dritter Roman „Was vom Tage übrigblieb“ 1993 in der Verfilmung durch den Regisseur James Ivory. Anthony Hopkins spielt darin einen Butler, dessen uhrwerkartiges Pflichtgefühl im heraufziehenden Krieg gegen Nazi-Deutschland ihn nicht davor bewahrt, zu verkennen, was die Stunde geschlagen hat. Auch der Roman „Alles, was wir geben mussten“ kam in der Verfilmung mit Keira Knightley ins Kino. Hier verschränkt sich eine reproduktionsmedizinische Zukunftsvision mit den existenziellen Fragen dreier Jugendlicher, die als Klone zu fragwürdigen Zwecken in einem Internat aufwachsen.

 

Königsrecht auf Überraschungen

Ishiguro zählte nicht zum engeren Kandidaten-Kreis für den Literaturnobelpreis. Mit der Ehrung für ihn hat sich das Nobel-Komitee geschickt aus der Affäre gezogen. Nach dem die Literaturexperten des Gremiums im vergangenen Jahr mit dem Singer-Songwriter Bob Dylan vor allem ihre eigene musikalische Sozialisation feierten, war davon auszugehen, dass diesmal eine eher traditionelle Entscheidung fallen würde. Hoch gehandelt wurden Langzeitanwärter wie der Kenianer Ngugi wa Thiong’o, der Japaner Haruki Murakami oder der Israeli Amos Oz. Mit dem zwischen den Genres, zwischen Literatur und Film, Asien und Europa nomadisierenden Kazuo Ishiguro hält die Jury ihr Königsrecht auf Überraschungen aufrecht, ohne dafür wie manches Mal die Latte nachvollziehbarer literarischer Kriterien kurzerhand zu unterschreiten.

Ganz wird man freilich den Verdacht nicht los, dass die Auguren exklusiven Kennertums ihre diebische Freude daran haben, vornehmlich jene in ihren Olymp zu berufen, die niemand auf der Rechnung hat. Denn so sehr Ishiguros sieben Romane Zeugnis ablegen von der enormen Blüte der britischen Gegenwartsliteratur, so sehr hat er seinen nicht minder preiswürdigen Landsleuten Hilary Mantel, Ian McEwan, John Burnside oder Julian Barnes vor allem eines voraus: zumindest im Bewusstsein der lesenden Öffentlichkeit bislang entschieden weniger verankert zu sein.

Sein Thema hat Kazuo Ishiguro bereits im ersten Roman von 1982 gefunden. In „Damals in Nagasaki“ taucht eine aus dem Ausland zurückkehrende Japanerin, deren Tochter sich umgebracht hat, in eine Welt der Erinnerungen, Träume und Illusionen ein. Alle späteren Bücher kreisen um die Frage, wie der einzelne seine Integrität in einem Zusammenhang von Schuld und gesellschaftlicher Verkommenheit verteidigen kann, sei es der heraufziehende Faschismus in „Was vom Tage übrigblieb“, seien es die unmenschlichen Möglichkeiten des biotechnologischen Fortschritts.

Der Sound der Stille

Wo Haruki Murakamis Romane von einem eigenen Klang getragen werden, da macht der 1954 in Nagasaki geborene und in Großbritannien aufgewachsene Ishiguro, der eigentlich Musiker werden wollte, den melancholischen Sound der Stille vernehmbar. In stockenden Dialogen, schweifenden Gedanken und dröhnender Einsamkeit tasten sich seine Protagonisten durch ihre leisen Lebenslügen.

In dem Roman „Der Maler der fließenden Welt“ von 1986 über einen in die japanische Expansionspolitik verstrickten Künstler verarbeitet Ishiguro seine eigenen Erfahrungen mit den Land. Ursprünglich wollte die nach England emigrierte Familie des Autors bald wieder nach Japan zurückkehren, zu Hause wurden deshalb weiterhin japanische Lebensart und Werte gepflegt. Dinge, die für seine englischen Schulkameraden moralisch verbindlich waren, erlebte Ishiguro als belanglos. „Was mir meine Abkunft und Erziehung vermittelt haben, ist das Bewusstsein, wie relativ Wertvorstellungen sind“, bekannte er einmal in einem Interview.

Ähnlich relativ ist es für den 63-Jährigen um die Gesetze literarischer Gattungen bestellt. Ob er sich auf das Feld der Science Fiction begibt oder wie in seinem letzten Roman auf jenes der Fantasy: Immer dienen ihm die gewählten Mittel dazu, ins Innere des Menschen vorzustoßen, sei es nun über den Umweg der Zukunft oder jenen der Einbildungskraft. Umgeben von Geistern, Dämonen und archaischen Naturwesen, bricht in Ishiguros „Begrabenem Riesen“ ein älteres Ehepaar auf, um seinen verlorenen Sohn zu suchen. Ein großer Nebel breitet sich über die Ereignisse.

Zähmung des Schreckens

Aber während es üblicherweise gilt, die Schleier zu lüften und Rätsel zu lösen erweist sich hier das Undurchdringliche als gnädiges Gespinst. Es überdeckt die Grausamkeiten und Katastrophen, denen die Bewohner dieser Welt ausgesetzt sind und ermöglicht ihr Überleben. Im Zusammendenken des Schreckens und seiner fantastischen Zähmung erweist sich die Eigenart und Kraft von Ishiguros Werk.

Einer seiner Bewunderer ist der österreichische Autor Daniel Kehlmann. Dessen als Geheimtipp lancierte Besprechung von Ishiguros letztem Roman endet mit dem Bedauern: „Leider kann man aber auch getrost voraussagen, dass so manche Leser, die dieses Meisterwerk schätzen könnten, einen Bogen darum machen werden, weil sie nun einmal beschlossen haben, dass sogenannte Fantasy unter ihrer Würde ist.“ Der Literaturnobelpreis wird daran wohl manches ändern. Höchste Zeit auch, dass dieser Riese endlich ausgegraben wird.